Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Freitag, 25. April 2014

Peur sur la ville (Il poliziotto della brigata criminale / Angst über der Stadt) 1975 Henri Verneuil

Inhalt: Commissaire Jean Letellier (Jean-Paul Belmondo) musste vor einem Jahr eine schwere Niederlage einstecken, als dem erfolgsverwöhnten Ermittler ein Bankräuber entkam, dessen Flucht zudem zivile Opfer forderte. Als er erfährt, dass sich Marcucci (Giovanni Cianfriglia) wieder in Paris aufhält, verfolgt er fanatisch jeden Hinweis, weshalb er den Tod einer jungen Frau (Lea Massari), die offensichtlich zu Tode erschreckt aus ihrer Wohnung stürzte, nicht besonders ernst nimmt.

Nur widerwillig folgt er den Anweisungen seines Chefs (Jean Martin), einen Mann ausfindig zu machen, der die Frau zuvor am Telefon bedroht hatte. An Hand weiterer Anzeigen von Frauen, die sich ähnlich belästigt fühlten, versuchen er und seine Männer die Spur von „Minos“ (Adalberto Maria Merli) aufzunehmen, der öffentlich damit prahlt, die Frauen wegen ihrer Unmoral bestrafen zu wollen. Bisher hat er noch keinen Mord begangen, weshalb Letellier ihn für einen Spinner hält, aber dann kommen er und Inspekteur  Moissac (Charles Denner) zu spät zu einer der Frauen…


Der französische Regisseur Henri Verneuil pflegte einen engen Kontakt zur italienischen Filmindustrie - nicht nur hinsichtlich der Tatsache, dass der Großteil seiner Filme als italienisch-französische Co-Produktionen entstand und er namhafte italienische Darsteller besetzte, sondern auch thematisch lassen sich Parallelen feststellen. "Le clan des Siciliens" (Der Clan der Sizilianer, 1969)) über das organisierte Verbrechen und der Polit-Thriller  "I... comme Icare" (I wie Ikarus, 1979)) waren jeweils auf der Höhe ihrer Zeit. "Peur sur la ville" (Angst über der Stadt) entstand 1975 auf dem Zenit des "Polizieschi all'italiana", als hohe Kriminalitätsraten und terroristische Anschläge Italien erschütterten. Diese Aktualität lässt sich an dem italienischen Verleih-Titel "Il poliziotto della brigata criminale" ablesen, der den Polizei-Charakter des Films noch betonen sollte, aber trotz diverser inhaltlicher Übereinstimmungen - ein eigenmächtig vorgehender Kommissar, ein rücksichtsloser Mörder, die Zivilbevölkerung bedrohende Schusswechsel und wilde Verfolgungsjagden - zeigt "Peur sul la ville" anschaulich den enormen Unterschied zwischen dem französischen und italienischen Kriminalfilm dieser Hochphase gesellschaftlicher Spannungen Mitte der 70er Jahre.

Der Beginn, mit dem Verneuil den italienischen Genre-Vertretern noch ganz nah kam, ist reinste Paranoia. Während die Kamera von oben über das nächtliche Paris streift oder verlassen wirkende, von Lichtreklame und spärlich beleuchteten Geschäftshäusern gesäumte Straßen einfängt, erklingt Ennio Morricones ins Atonale abgleitende rhythmische Musik, die eine gespenstisch bedrohliche Atmosphäre erzeugt. Und damit den passenden Hintergrund für die erste Szene um die italienische Schauspielerin Lea Massari („L’avventura“ (Die mit der Liebe spielen, 1960)) abgibt, die vor Angst stirbt, ohne das der Täter selbst eingreifen muss. Ein makabres Spiel mit den Emotionen, die Verneuil eng mit einer modernen, kalt wirkenden Architektur verband. Eine schöne Frau fällt aus dem Stockwerk eines hohen Wohnturms - symbolisch für eine soziale Entwicklung stehend, die die traditionellen Geschlechterrollen und damit den Umgang mit der Sexualität aushebelte. Das zentrale Thema des Films.

Ohne die sich seit den 60er Jahren vehement verändernde Sozialisation wären auch die „Polizieschi“ nicht vorstellbar gewesen, aber diese leisteten sich nicht mehr den Luxus, eines allein vorgehenden psychopathischen Mörders – ein klassisches Motiv des Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre aktuellen „Giallo“ - sondern ließen ihre Ermittler vor dem breiten Hintergrund eines kriminell aufgeheizten Klimas agieren, das unmittelbar auf die mafiösen Strukturen und die politischen Auseinandersetzungen im Land anspielte. Dieser gesamtgesellschaftliche Aspekt fehlte zwar in „Peur sur la ville“, aber auch Verneuil hob die Morde an allein stehenden, sich angeblich promiskuitiv verhaltenden Frauen aus der Anonymität eines Einzeltäters heraus. Der äußerlich unauffällige Mann, dessen Identität Verneuil früh preisgibt, nennt sich selbst „Minos“ – nach einer Figur aus der „Göttlichen Komödie“ von Dante Alighieri, einem zentralen Werk der italienischen Literatur – und versteht sich als Rächer einer wachsenden Amoral, weshalb er mit Informationen über seine Motive und Taten auch an die Presse geht.

Damit griff der Film eine Mitte der 70er Jahre aktuelle Diskussion auf, als die Emanzipation, verbunden mit einer liberaleren sexuellen Haltung, in Großstädten wie Paris zwar schon fortgeschritten, die gesamte Entwicklung aber noch fragil und erheblichen Anfeindungen ausgesetzt war. Aus heutiger Sicht verhalten sich die von „Minos“ bedrohten ungebundenen Frauen in jeder Hinsicht normal - sie haben Affären mit verheirateten Männern oder erneuten sexuellen Kontakt nach dem Tod ihres Ehemanns – aber Verneuil lässt aus den Worten eines Psychologen, der für „Minos“ Verständnis aufbringt, erkennen, dass dieser mit seiner ablehnenden Reaktion damals nicht allein stand. Eine weitere Betonung dieser Ambivalenz vermied der Regisseur durch die Charakterisierung und Besetzung der beiden Gegenspieler - Adalberto Maria Merli legte den Killer zwischen Minderwertigkeitskomplex und Wahnsinn an, weshalb er auch zur Entstehungszeit des Films nicht als Identifikationsfigur diente, und Jean-Paul Belmondo als ermittelnder Kommissar Jean Letellier ist eben Jean-Paul Belmondo.

Belmondo übte sich in „Peur sur la ville“ im Gegensatz zu vielen späteren ähnlich angelegten Filmen noch in Zurückhaltung und blieb jederzeit ernsthaft in seiner Rolle, aber die damalige vor allem von der seriösen Presse geäußerte Kritik an seiner eigenmächtigen Vorgehensweise als Polizist lässt sich nur mit der großen Popularität des damaligen Kino-Superstars erklären und dem damit verbundenen hohen Identifikationspotential. Im Vergleich zu einem von Maurizio Merli gespielten Commissario fiel Belmondo mehr durch Action als brutale Konsequenz auf. Die gesamten Szenen um den Bankräuber Marcucci (Giovanni Cianfriglia), der Letellier ein Jahr zuvor entkommen konnte, haben nur den Zweck, Belmondo die Gelegenheit für sportliche Höchstleistungen bei einer wilden Verfolgungsjagd zu bieten – ein Können, dass er auch bei der langen Sequenz mit Minos auf den rutschigen Pariser Dächern beweist, als ihm die Kugeln um den Kopf fliegen, er aber immer noch genügend Power hat, sich an den Dachrinnen entlang zu hangeln. Diese authentischen Stunts haben ihre Wirkung bis heute nicht verloren, aber die Szenen, in denen er gemeinsam mit seinem Partner, Inspektor Moissac (Charles Denner), unrechtmäßig Druck auf Verbrecher ausübt, wirken auch dank Belmondos lässigen Spiels inzwischen beinahe harmlos. Selbst Jean Martin, der vehement die Rolle Frankreichs im Algerienkonflikt kritisierte und wichtige Rollen in „La battaglia di Algeri“ (Schlacht um Algier, 1966) und „The day of the jackal“ (Der Schakal, 1973) übernahm, tritt als Letelliers Vorgesetzter Sabin gemäßigt auf.

Henri Verneuil gelang damit die Gratwanderung zwischen populärem Actionkino und einer von Angst bestimmten Atmosphäre, die er mit kalten Großstadtbildern, unterlegt mit Morricones Filmmusik, erzeugte. Bis heute macht dieser zwischen diesen Polen changierende, manchmal inkonsequent wirkende Eindruck, die eigentliche Faszination des Films aus.


"Peur sur la ville" Italien / Frankreich 1975, Regie: Henri Verneuil, Drehbuch: Henri Verneuil, Jean-Paul Rappeneau, Darsteller : Jean-Paul Belmondo, Charles Denner, Alberto Maria Merli, Lea Massari, Jean Martin, Rosy Varte, Laufzeit : 121 Minuten

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Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.