Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Sonntag, 9. März 2014

Milano calibro 9 (Milano Kaliber 9) 1972 Fernando Di Leo

Inhalt: Mit scheinbarer Perfektion wechselt ein Geldpaket unauffällig von Hand zu Hand, doch als es bei seinem Adressaten anlangt, befindet sich nur Zeitungspapier darin. Jemand aus der Kette der Beteiligten muss das Geld gestohlen haben, wodurch Rocco (Mario Adorf) auf den Plan gerufen wird, der als Mann fürs Grobe dem „Americano“ (Lionel Stander) dient, einem einflussreichen Mailänder Boss, der aus den USA stammt. Doch auch sein hartes Durchgreifen lässt die verschwundenen Dollars nicht wieder auftauchen, weshalb aus Sicht des Gangsterbosses nur noch Ugo Piazza (Gastone Moschin) als möglicher Täter übrig bleibt, der unmittelbar nach dem Diebstahl verhaftet wurde und drei Jahre im Gefängnis saß.

Es hilft ihm nicht, zu beteuern, dass er das Geld nicht genommen hat, denn Rocco wartet schon auf ihn und lässt ihn keinen Moment in Ruhe. Mehrfach wird er verprügelt und bleibt nur am Leben, weil seine Peiniger erst das Versteck erfahren wollen. Fast verzweifelt wäre Piazzas Lage, wäre da nicht die schöne Nachtclub-Tänzerin Nelly (Barbara Bouchet), mit der er früher zusammen war. Sie hatte ihn zwar nie im Gefängnis besucht, aber jetzt empfängt sie ihn mit offenen Armen…


Fernando Di Leos von 1972 bis 1973 in die Kinos gekommenen Filme "Milano calibro 9" (Milano Kaliber 9, 1971), "La mala ordina" (Der Mafiaboss - sie töten wie Schakale, 1972) und "Il boss" (Der Teufel führt Regie, 1973) gelten heute als "Mafia"-Trilogie, da sie sich - obwohl inhaltlich voneinander unabhängig - jeweils aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der "Mafia"- Thematik auseinandersetzten. So griffig und werbewirksam eine solche Bezeichnung der frühen Phase Di Leos, Anfang der 70er Jahre, heute erscheinen mag, so sehr vermittelt diese eine thematische Abgeschlossenheit, die seinen insgesamt zehn zwischen 1969 und 1977 dem Genre des "Polizieschi" zuzurechnenden Filmen nicht gerecht wird, die fast prototypisch dessen Entwicklung ausgehend vom Italo-Western parallel zu den gesellschaftspolitischen Veränderungen nachzeichneten.

"I ragazzi del massacro" (Note 7 - die Jungen der Gewalt,1969) war noch mehr Gesellschaftsstudie als Kriminalfilm und reagierte auf typische bürgerliche Ängste angesichts einer revoltierenden Jugend, bevor Fernando Di Leo mit "Milano calibro 9" seinen einzigen Italo-Western als Regisseur schuf, genauer die neben Sergio Sollimas "Città violenta" (Brutale Stadt, 1970) und "Revolver" (Die perfekte Erpressung, 1973) ideale Kombination aus Polizeifilm und Western - ein Genre, an dem er als Drehbuchautor entscheidend mitgewirkt hatte. Nachdem er bei den zwei ersten Sergio Leone-Western "Per un pugno di dollari" (Für eine Handvoll Dollar, 1964) und "Per qualche dollaro in più" (Für ein paar Dollar mehr, 1965) dem Autoren-Team angehörte, bewies er mit "Il ritorno di Ringo" (Ringo kommt zurück, 1965) und "Le colt cantarono la morte e fu... tempo di massacro" (Django - sein Gesangsbuch war der Colt, 1966) früh Eigenständigkeit. Mit "Ognuno per se" (Das Gold von Sam Cooper, 1968) hatte er noch wenige Jahre zuvor einen prägenden Western geschrieben, bevor er das Thema eines Einzelgängers, der nach Jahren in seine Heimat zurückkehrt und sich seiner Vergangenheit stellen muss, in die italienische Gegenwart transferierte.

Dass er die Story von "Milano calibro 9" innerhalb des organisierten Verbrechens ansiedelte, war folgerichtig und wurde prägend für den Polizieschi, in dem es fast immer ums große Ganze und selten um einzelne Kriminalfälle ging. Auch im Italo-Western bekam es der "Held" in der Regel mit einer Übermacht zu tun, die von einem in der bürgerlichen Gesellschaft angesehenen Großgrundbesitzer streng hierarchisch geleitet wurde. Zu einer solchen Truppe gehörte immer ein Mann für die Drecksarbeit, eine Figur, die Mario Adorf als Rocco geradezu beängstigend überzeugend in ihrer Mischung aus Brutalität, Sadismus und absoluter Hörigkeit gegenüber seinem Boss interpretierte. Auch Gastone Moschin als Piazza, der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis mit den ehemaligen Kumpanen konfrontiert wird, die ihm unterstellen, Drogengelder gestohlen zu haben, agierte faszinierend als stoischer Einzelgänger, der erst leiden muss, bevor der von seiner Umgebung unterschätzte Mann zurückschlägt - eine klassische Western Konstellation.

Die "Mafia"-Thematik spielte in "Milano calibro 9" dagegen noch eine untergeordnete Rolle, mehr als Hintergrund für die inneren psychologischen Abhängigkeiten unter den ehemaligen und aktuellen Bandenmitgliedern. Eine in ihrer Ganovenehre fast romantisch anmutende Figur wie Chino (Phillipe Leroy), der seinen erblindeten Boss in einer einfachen Wohnung betreut, und den Piazza (Gastone Moschin) als Einzigen um Hilfe bittet, wäre in Di Leos folgenden, die Mechanismen der Mafia in ihrem ganzen Zynismus entlarvenden Filmen unvorstellbar. Auch die Beziehung zu der Nachtclub-Tänzerin Nelly (Barbara Bouchet), die Piazza wieder mit offenen Armen aufnimmt, entsprach in ihrer Zwiespältigkeit mehr einem klassischen Drama und erzeugte eine emotionale Nähe zu dem Protagonisten, unterstützt von der eindringlichen Musik Luis Bacalovs, die Fernando Di Leo in seinen folgenden Filmen zunehmend verlor. Dank seines Temperaments konnte Mario Adorf in "La mala ordina" noch eine Identifikation mit seiner Rolle als Zuhälter aufbauen, in "Il boss" existieren solche Emotionen nicht mehr.

Eine von Di Leo beabsichtigte Richtung, die den Weg zum klassischen Poliziesco, in dem ein Einzelgänger gegen eine Übermacht aus Korruption und Verbrechen antrat, vorbereitete. Der in Deutschland nahezu unbekannte "Il poliziotto è marcio" (1974) mit Luc Merenda in der Hauptrolle als Rache nehmender Polizist setzte diese Linie konsequent fort. Anders als „Milano calibro 9“ der über die grobe Mafia-Thematik hinaus kaum Ähnlichkeiten zu „Il boss“ aufweist, werden die Parallelen in „Il poliziotto è marcio“ schon in der Anfangsszene offensichtlich, in der ein Gangsterboss und seine mit Maschinengewehren bewaffneten Männer eine Gruppe gnadenlos massakrieren, weil sie es gewagt hatten, mit Anderen Geschäfte zu machen. Dagegen erinnern die Szenen in „Milano calibro 9“, in denen zwei Polizei-Offiziere (Frank Wolff und Luigi Pistilli) politisch kontrovers die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen diskutieren, noch an den Vorgängerfilm "I ragazzi del massacro" - ein solches gedankliches Engagement, unabhängig von der jeweiligen Haltung, traute Di Leo den Polizisten in "Il boss" nicht mehr zu.

Die Einordnung in eine Trilogie und besonders die damit verbundene Vergleichbarkeit können einem solitären Werk wie "Milano calibro 9" nicht gerecht werden, in dem Di Leo noch das menschliche Element suchte. Möglicherweise führte die daraus entstehende Tragik zur Konsequenz der folgenden Filme, in denen die Befindlichkeiten des Einzelnen innerhalb der Mechanismen einer gnadenlosen Verbrecherordnung keine Rolle mehr spielten.

"Milano calibro 9" Italien, Frankreich 1972, Regie: Fernando Di Leo, Drehbuch: Fernando Di Leo, Giorgio Scerbanenco (Roman), Darsteller : Gastone Moschin, Mario Adorf, Barbara Bouchet, Philipp Leroy, Frank Wolff, Luigi Pistilli, Lionel Stander, Laufzeit : 102 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Fernando Di Leo:

"La mala ordina" (1972)

Keine Kommentare:

Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.