Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Dienstag, 30. Oktober 2012

Ladri di biciclette (Fahrraddiebe) 1948 Vittorio De Sica


Inhalt: Antonio Ricci (Lamberto Maggiorani) hat das Glück, einen der wenigen Jobs zu bekommen, die an die vielen arbeitslosen Männern vergeben werden. Doch er benötigt dafür ein Fahrrad, da er als Plakate-Kleber weite Strecken durch Rom fahren muss. Um ihm diese Chance zu ermöglichen, verkauft seine Frau Maria (Lianella Carell) ihre Bettwäsche, einen Teil ihrer Aussteuer. Mit dem Geld können sie das Fahrrad bei einem Pfandleiher auslösen und Antonio beginnt am nächsten Tag seine neue Arbeit.

Doch während er noch ungeschickt versucht, sein erstes Plakat anzukleben, nutzt ein Dieb seine Unaufmerksamkeit. Bis Ricci von seiner Leiter herunter gelangt, hat der Fahrraddieb genügend Vorsprung, da ihm auch sonst Niemand zu Hilfe kommt. Von der Polizei hat er auch nichts zu erwarten, aber seine Freunde empfehlen ihm, am Sonntagmorgen zum Fahrrad-Markt zu gehen, da Diebesgut meist dort landet. Gemeinsam mit seinem kleinen Sohn Bruno (Enzo staiola) macht er sich auf den Weg…


"Ladri di biciclette" (Fahrraddiebe) gewann nicht nur eine Vielzahl an Preisen, sondern erhielt 1950 neben einer Oscar-Nominierung für das beste adaptierte Drehbuch auch den Ehren - Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Diesen hatte Vittorio De Sica schon 1948 für "Scuscia" (Schuhputzer, 1946) erhalten, aber "Ladri di biciclette" wurde zum Synonym schlechthin für den Stil des Neorealismus, der dank dieses Films weltweit Anerkennung erhielt. Obwohl "Ladri di biciclette" selbst kein großer Kassenerfolg wurde, ebnete er den Weg für plakativere, publikumswirksamere Werke wie "Riso amaro" (Bitterer Reis, 1949) von Giuseppe De Santis oder führte zu der Zusammenarbeit von De Sica mit dem Hollywood-Produzenten Selznick ("Stazione Termini" (Rom, Station Termini, 1953)). Kein anderer italienischer Regisseur dieser Phase nach dem Ende des 2.Weltkriegs, verdiente sich ähnliche Meriten. Einzig Roberto Rossellini wurde für "Roma, città aperta" (Rom, offene Stadt, 1945) und "Paisà" (1946) für den Drehbuch - Oscar (adaptiert bzw. original) nominiert.

Der heutige Bekanntheitsgrad des Neorealismus und seiner wichtigsten Werke täuscht darüber hinweg, wie gering deren Anteil am gesamten Filmschaffen in Italien, Ende der 40er Jahre, war. Zudem galt „Ladri di biciclette“ damals bei vielen Italienern als unpatriotisch mit seinem genauen Abbild der Realität, was Ettore Scola in "C'eravamo tanti amati" (Wir waren so verliebt, 1974) deutlich werden lässt, als es nach einer Kinoaufführung zu einem heftigen Streit zwischen Zuschauern, die De Sica „Nestbeschmutzung“ vorwerfen, und Anhängern seines künstlerischen Stils kommt. Obwohl Vittorio De Sica, im Gegensatz zu den meisten anderen Regisseuren des Neorealismus, keine marxistische Ideologie vertrat – ein wesentlicher Grund für seine Anerkennung in den USA – und seine Kunst gerade darin bestand, die Realität ohne zu urteilen und ohne übertriebene Dramatik darzustellen, wird an dieser Auseinandersetzung offensichtlich, das es Ende der 40er Jahre einen großen Unterschied bedeutete, von welchem Blickwinkel aus der Film analysiert wurde.

Während der unabhängige Betrachter in der Regel mit Antonio Ricci (Lamberto Maggiorani) und seinem Sohn Bruno (Enzo Staiola) mitfiebert, die an einem Sonntag in Rom verzweifelt versuchen, das Fahrrad wieder zu finden, das Ricci am Tag zuvor gestohlen wurde und das er für seine Arbeit benötigt, nahm De Sica diese Geschichte zum Anlass, das Leben in Rom mit allen seinen Facetten darzustellen. Fast organisch wirkt die Bevölkerung, wie sie in Massen auf den Arbeitsvermittler zuströmt, bevor ein/zwei Männer – darunter Antonio Ricci - ausgespuckt werden, die einen der wenigen Jobs ergattern konnten. Überall entstehen Gruppierungen wie die Frauen um Riccis Ehefrau Maria (Lianella Carell), die am Brunnen Wasser für ihre herunter gekommenen Wohnungen schöpfen, die an der Peripherie der Stadt liegen und nicht an das Leitungsnetz angeschlossen sind, wie die Menschenschlangen, die sich in die wenigen öffentlichen Verkehrsmittel drücken oder in die Kirchen bewegen, wo die Armen nach der Messe ein Essen bekommen. Und immer wieder kommt es zu spontanen Aufläufen, wenn irgendetwas Aufregendes geschieht. Es sind genügend Männer da, die von überall herkommen, ähnlich gekleidet und ohne feste Beschäftigung sind.

Mit der konsequenten Besetzung von Laien-Darstellern, sowie dem Dreh ausschließlich an Originalschauplätzen, vermittelt „Ladri di biciclette“ ein Leben, das unmittelbar auf den Straßen Roms stattfindet. Keineswegs von Depressionen gezeichnet, sondern voller Bewegung und Emotionen, aber basierend auf den widrigen Verhältnisse nach dem Krieg – Wohnungsnot, mangelnde Infrastruktur, große Arbeitslosigkeit – die der Film mit der gleichen Selbstverständlichkeit zeigt, wie diese Teil des Lebens eines Großteils der Bevölkerung sind. Zu Beginn des Films, wenn Ricci das Glück hat, einen Job als Plakate-Kleber zu erhalten, seine Frau ihre Bettwäsche verkauft, um das dafür notwendige Fahrrad beim Pfandleiher auslösen zu können, und sie glücklich zu Zweit durch Roms Straßen fahren, vermittelt der Film noch ein singuläres Schicksal. Welches tragische Züge annimmt, als ihm an seinem ersten Arbeitstag das Fahrrad gestohlen wird, er den Dieb nicht fassen und die Polizei ihm auch nicht helfen kann, angesichts unzähliger Fahrräder in der Millionenstadt, und er seiner weinenden Frau den Verlust beichten muss.

Doch der Charakter der Story verändert sich, als sich Ricci und sein aufgeweckter Sohn am Sonntagmorgen zu dem Fahrrad - Markt begeben, wo sie ihr gestohlenes Gut vermuten. Ihr Privatleben bleibt zurück und sie tauchen immer tiefer in die Stadt ein, glauben, das Fahrrad entdeckt zu haben, verlieren wieder die Hoffnung bis ihnen tatsächlich der Dieb über den Weg läuft. Ihr individuelles Schicksal verliert dabei an Bedeutung, angesichts der Konfrontation mit Menschen, die ähnliches ertragen müssen. In „Ladri di biciclette“ gibt es keine Bösen und Guten, auch Niemanden der hinterlistig handelt, sondern nur Menschen, die versuchen, mit ihrer Situation irgendwie zurecht zu kommen und dabei auch vor Rücksichtslosigkeiten nicht zurück schrecken – solidarische Gefühle bleiben dabei auf der Strecke. Das gilt auch für Antonio Ricci, dessen zunehmend nervöse, penetrante Suche nach seinem Fahrrad immer egoistischere Züge annimmt, bis er selbst den einzigen Ausweg darin sieht, ein Fahrrad zu stehlen.

De Sica hat seinen Filmtitel nicht ohne Grund in den Plural gesetzt. Mit den „Fahrraddieben“ hat er nicht auf Riccis letzten verzweifelten Versuch frühzeitig hinweisen wollen, sondern eine generelle Situation beschrieben, in die Jeder kommen kann, angesichts der hier gezeigten Lebensumstände. Das Gefühl der Erniedrigung, dass Ricci am Ende erleiden muss, als er vor den Augen seines Sohnes bei dem Diebstahl erwischt wird, ist entsprechend kein singuläres Schicksal mehr, sondern etwas, was Jedem widerfahren kann. Mit beiläufiger Selbstverständlichkeit lässt „Ladri di biciclette“ seine Protagonisten danach in der Masse verschwinden und beendet damit eine alltägliche Geschichte, wie sie jeden Tag vorkommen kann – die Normalität dieser Situation ist das eigentliche Drama.

"Ladri di biciclette" Italien 1948, Regie: Vittorio De Sica, Drehbuch: Vittorio De Sica, Cesare Zavattini, Suso Cecchi D'Amico, Darsteller : Lamberto Maggiorani, Enzo Staiola, Lianella Carell, Vittorio Antonucci, Giulio Chiari, Laufzeit : 90 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Vittorio De Sica:

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Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.