Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Sonntag, 30. November 2014

Emanuelle e gli ultimi cannibali (Nackt unter Kannibalen) 1977 Joe D'Amato

Inhalt: Emanuelle (Laura Gemser) schmuggelt sich als Fotoreporterin in eine New Yorker Heilanstalt, mischt sich unter die Patienten und wird zufällig Zeugin, als eine junge Frau einer Krankenschwester die Brustwarze abbeißt und sie isst. Nachdem diese überwältigt und auf einer Liege festgeschnallt wurde, begibt sich Emanuelle heimlich in deren Zimmer und versucht sie mit Zärtlichkeiten zu beruhigen. Dabei entdeckt sie oberhalb der Vagina ein Tattoo, dass sie fotografiert.

In der Zeitungs-Redaktion gibt ihr der Chefredakteur den Tipp, den Anthropologen Marc Lester (Gabriele Tinti) aufzusuchen, um ihn nach der Bedeutung des Tattoos zu befragen. Der Professor reagiert sehr interessiert, denn es handelt sich um das Kennzeichen eines im Amazonas-Gebiet, weitab jeder Zivilisation lebenden Kannibalen-Stamms, bei dem die Frau aufgewachsen sein muss. Um seine Worte zu unterstreichen, zeigt er Emanuelle einen Dokumentarfilm, der deren Grausamkeit verdeutlicht. Trotzdem will die Fotoreporterin den Weg in die unbekannte Wildnis wagen und bittet den Professor, sie zu begleiten…



Gesteigerte Fleischeslust

Zärtlicher Abschied von New York
1977 hatte die Soft-Sex-Welle ihren Höhepunkt bereits überschritten. Unter dem vielsagenden Titel "Emmanuelle goodbye" kam der dritte und vorläufig letzte Teil der französischen "Emmanuelle" - Reihe in die Kinos, die seit ihrem Erscheinen 1974 zu einem bis heute stehenden Begriff für das Erotik-Film-Genre geworden war. Auch die indonesisch-niederländisch stämmige Laura Gemser hatte 1977 schon ihren vierten Film als "Emanuelle nera" (Schwarze Emanuelle) abgedreht, dem italienischen Pendant zur französischen "Emmanuelle", das aus rechtlichen Gründen auf ein "m" im Namen verzichten musste. Nicht der einzige Unterschied, denn Laura Gemser, die nach ihrem ersten Auftritt als "Emanuelle nera" (1975) auch eine Nebenrolle in "Emmanuelle: L'antivierge" (Emmanuelle 2 - Garten der Liebe (1975)) an der Seite Sylvia Kristels spielte, verkörperte einen gänzlich anderen Frauen-Typus. Als eigenständig agierende Fotoreporterin begibt sie sich zu den Brennpunkten der Welt.

Wie üblich haben es die wilden Tiere besonders auf Frauen abgesehen...
Eine Vorlage für Joe D'Amato, der ab der ersten Fortsetzung "Emanuelle nera: Orient reportage" (Black Emanuelle 2. Teil (1976)) Regie führte und spätestens mit der Übernahme auch des Drehbuchs bei Teil Vier ("Emanuelle - Perché violenza alle donne?" (Emanuela: Alle Lüste dieser Welt (1977)) die Reihe ganz in seinem Sinn gestaltete. Nicht nur, dass er ohne Laura Gemsers Mitwirkung mit nachträglich integrierten expliziten Sex-Szenen für alternative Fassungen sorgte, um der zunehmend aufkommenden Konkurrenz durch den Pornofilm zu begegnen, thematisch wusste er geschickt Exploitation mit Erotik zu einem Sensationsversprechen zu verbinden. Zwar steht seine Orientierung an Ruggero Deodatos "Ultimo mondo cannibale" (Mondo Cannibale 2 - der Vogelmensch, 1977) bei der Entwicklung seiner Story für den fünften "Emanuelle"-Streifen "Emanuelle e gli ultimi cannibali" (Nackt unter Kannibalen) außer Zweifel, aber das betraf mehr dessen wirtschaftlichen Erfolg und damit die Akzeptanz beim Publikum als die inhaltliche Ausrichtung. Schon in "Emanuelle e Françoise (Le sorelline)" (Foltergarten der Sinnlichkeit, 1975), der nichts mit der "Emanuelle nera"-Reihe zu tun hat, schuf Joe D’Amato eine Mischung aus Sex und Horror, die in einer Szene auch die Kannibalismus-Thematik streifte.

... die sich davon aber nicht die Laune verderben lassen.
Für D’Amato besaß diese vor allem das Potential, den exploitiven Charakter seiner „Emanuelle“-Filme weiter zu steigern, deren Einfluss durch das „Mondo“-Genre in der Verwendung pseudo-dokumentarischer Gewalt- und Tötungssequenzen nicht zu übersehen war. In dieser Hinsicht lässt sich eine größere Nähe zu Umberto Lenzis „Il paese del sessio selvaggio“ (Mondo Cannibale, 1972) als zu Deodatos erstem Kannibalen-Film feststellen, denn D’Amato war an keiner Auseinandersetzung mit archaischen menschlichen Verhaltensmustern interessiert, sondern nutzte die Ereignisse um den Kannibalen-Stamm als oberflächlich-spekulativen Hintergrund für den nächsten investigativen Trip seiner Hauptfigur Emanuelle. Anders als Lenzi, dessen Sex-Szenen integrativer Bestandteil der Handlung blieben, inszenierte D’Amato die gut ausgeleuchteten Erotikszenen im Dschungel in starkem Kontrast zum gewalttätigen Kannibalismus-Geschehen und bewies damit einen eigenständigen Ansatz, weshalb die häufige Einordnung dieses zweiten italienischen Kannibalismus-Films als reines Deodato-Vehikel falsch ist („Das italienische Kino frisst sich selbst“).


Kastrationsängste


Allein die Anzahl schöner Frauen, die D’Amato in den Dschungel trieb, unterschied seinen Film schon von gängiger Genre-Ware. Gehörte in der Regel eine Frau zum Abenteurer-Team, schlagen sich neben Emanuelle noch Isabelle (Mónica Zanchi), die Nonne Angela (Annamaria Clementi) und nicht zuletzt Nieves Navarro - seit dem frühen Italo-Western “Una pistola per Ringo“ (Eine Pistole für Ringo, 1965) in der Rolle als verführerische Schönheit festgelegt - als Maggie McKenzie, Gattin eines fiesen Großwildjägers (Donald O’Brien), durch den Regenwald, der seine Herkunft als europäisches Strauchwerk nicht verbergen kann. D’Amato nutzte diese Besetzung für regelmäßige Soft-Sex-Szenen, die die sonst schnell geschnittene Handlung minutenlang unterbrachen. Besonders die gemeinsame Badeszene mit Laura Gemser und Mónica Zanchi wirkt in ihrer verspielt-sanften Ausgestaltung inmitten der angeblichen Wildnis fast absurd, erfüllte aber trefflich die ästhetische Erwartungshaltung an eine Lesben-Szene, die den männlichen Betrachter an den sonst heterosexuellen Neigungen der Protagonistinnen nicht zweifeln ließ.

Auch die emanzipatorische Ausrichtung der selbstständig agierenden Emanuelle wurde relativiert, indem ihr eine souveräne männliche Figur zur Seite gestellt wurde. Erst Professor Marc Lester (Gabriele Tinti) ermöglicht ihr den Trip zum Amazonas, denn der Anthropologe erkennt in dem Tattoo, das Emanuelle auf dem Körper einer scheinbar Wahnsinnigen vorfand, eine Verbindung zu einem dort lebenden Kannibalenstamm – nicht erstaunlich, dass sie sofort vom Sex mit ihm träumt. Die Fotoreporterin hatte sich zuvor undercover in eine New Yorker Heilanstalt eingeschlichen und wurde Zeuge, wie die junge Patientin einer Schwester die Brustwarze abbiss und verspeiste. Eine sehr gewagte Einleitung in Richtung Kannibalismus-Thematik, die der Professor nur wenig später mit seinen pseudo-dokumentarischen Aufnahmen einer Kastration noch toppt. Beide Motive wiederholen sich im Lauf der Handlung ein weiteres Mal in expliziterer Form, womit D’Amato den größtmöglichen Horror betonte – den Verlust der geschlechtsspezifischen Identität.

Allein unter inszenatorischen Gesichtspunkten betrachtet, lassen sich die Schwachpunkte in der Storyentwicklung, die oberflächliche Figuren-Gestaltung und der unausgewogene Charakter des Films nicht übersehen, aber mit dessen ständig zwischen Soft-Sex und Kannibalen-Horror wechselnder Handlung bewies D’Amato sein Einfühlungsvermögen für die Bedürfnisse und Ängste männlicher Betrachter, angesichts der fortschreitenden weiblichen Emanzipation, Ende der 70er Jahre. "Emanuelle e gli ultimi cannibali" kontrastierte den Schrecken amputierter Penisse und zerstörter weiblicher Körper mit ästhetischen Aufnahmen schöner Frauen, die sich letztlich dem Mann unterordnen. Als am Ende des Films Emanuelle, angesichts der vielen Opfer, Selbstzweifel über ihr Vorgehen als Fotoreporterin äußert, erhält sie von Professor Marc Lester sofort Absolution – die Welt ist noch in Ordnung.

"Emanuelle e gli ultimi cannibali" Italien 1977, Regie: Joe D'Amato, Drehbuch: Joe D'Amato, Romano Scandariato, Darsteller : Laura Gemser, Gabriele Tinti, Donald O'Brien, Nieves Navarro, Mónica Zanchi, Laufzeit : 90 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Joe D'Amato:

Sonntag, 16. November 2014

...E tu vivrai nel terrore! L'aldilà (Die Geisterstadt der Zombies) 1981 Lucio Fulci

Inhalt: Louisiana 1927: Einige Männer kommen per Boot über einen Fluss, Andere erreichen das Hotel mit dem Auto, bevor sie gemeinsam das Zimmer 36 aufsuchen, in dem ein Maler (Antoine Saint-John) kurz davor steht, ein Gemälde zu vollenden. Doch dazu kommt es nicht mehr. Die Männer misshandeln ihn brutal, schleppen ihn in den Keller, wo sie ihn kreuzigen und seinen Körper mit Löschkalk zerstören.

Mehr als 50 Jahre später kehrt wieder Leben in das alte Hotel ein, in dem die damalige Hinrichtung geschah. Lisa Merrill (Catriona McColl) hat es geerbt und will es mit Hilfe ihres Freundes Martin (Michele Mirabella), einem Architekten, wieder in Stand setzen – eine fast herkulische Aufgabe, angesichts des baulichen Zustands und ihrer geringen finanziellen Möglichkeiten. Als einer der Arbeiter schwer verunglückt, kommt erstmals der Arzt John McCabe (David Warbeck) zu dem Hotel, der aber nichts mehr für den Mann tun kann. Doch Lisa fasst Vertrauen zu ihm und bittet ihn erneut zu kommen, als sich die unerklärlichen Ereignisse häufen…


 "...auch du wirst im Schrecken leben! Das Jenseits" - eine wenig vielversprechende Aussicht, mit der Lucio Fulci den Betrachter direkt ansprach und damit schon den Unterschied zu seinen Zombie-Vorgängern betonte. "...e tu vivrai nel terrore! L'aldilà" (wenig inspiriert als "Die Geisterstadt der Zombies" veröffentlicht oder inhaltlich falsch "Über dem Jenseits" tituliert) gilt als dritter Teil der "Zombie-Trilogie" nach "Zombi 2" (Woodoo - die Schreckensinsel der Zombies, 1979) und "Paura nella città dei morti viventi" (Ein Zombie hing am Glockenseil, 1980), die Fulci jeweils mit Drehbuchautor Dardano Sacchetti, Kameramann Sergio Salvati und Komponist Fabio Frizzi entwickelte. Dank der gruseligen Atmosphäre, gepaart mit sehr grafischen Splatter-Effekten, die Fulci in jedem seiner Filme zu steigern wusste, lag die "Trilogie"-Einordnung nah, täuscht aber ein wenig darüber hinweg, dass die Kreativen die Zombie-Thematik jeweils sehr unterschiedlich umsetzten.

Erinnerte "Zombi 2" noch an die traditionelle Saga ("I walked with a Zombi" (Ich folgte einem Zombie, USA 1943)) und spielte größtenteils auf einer Karibik-Insel, war "Paura nella città deimorti viventi" in den USA angekommen - der bevorzugte Handlungsort im italienischen Genre-Film dieser Phase, um beim italienischen Publikum trotz des offensichtlich geringen Budgets mit der Konkurrenz "Hollywood" mithalten zu können (siehe den Essay "Das italienische Kino frisst sich selbst"). Die tödliche Gefahr durch die wieder auferstandenen Toten wird den Bewohnern eines kleinen Ortes zwar nur langsam bewusst, aber sie blieb eine Bedrohung von außen, gegen die sich die Protagonisten gezielt zur Wehr setzen konnten. Diese eindeutige Trennlinie existiert nicht mehr in "...e tu vivrai nel terrore! L'aldilà", in dem die Gefahr aus dem Inneren zu kommen scheint und die Untoten nicht mehr klar von den Lebenden unterschieden werden können.

Wie gewohnt nutzte Autor Sacchetti okkulte Zeichen und Formeln, um die mehr als 50 Jahre nach der Eingangsszene, in der ein Maler brutal hingerichtet wird, einsetzende Handlung vorzubereiten, aber mehr noch als in den Vorgängern bemühte er sich gar nicht erst um eine schlüssige Durchführung der Story, sondern trieb sein Spiel mit den unterschiedlichen Ebenen so weit, dass die kommenden Ereignisse nur schwer vorherzusehen sind. Anders als im typischen Zombie-Film bedeutet eine Übermacht an Angreifern noch nicht den sicheren Tod, der stattdessen  in ganz anderer Form überraschend eintreten kann – wie in der Bibliotheks-Szene, in der das Opfer gefräßigen Taranteln ausgesetzt wird. Ein unrealistisches, aber wirkungsvolles Szenario.

Einzigen erzählerischen Halt vermitteln die Figuren der Hotel-Erbin Lisa Merrill und des Arztes John McCabe, der zum ersten Mal an den Ausgangsort des Grauens gerufen wird, als bei den Renovierungsarbeiten ein Unglück geschieht. Catriona McColl, die schon die Hauptrolle in "Paura nella città dei morti viventi" spielte und bei dem Versuch, das geerbte Hotel mit Hilfe ihres Freundes Martin wieder zu reaktivieren, dessen Vergangenheit herauf beschwört, wurde diesmal David Warbeck an die Seite gestellt, der sich Anfang der 80er Jahre als Protagonist der Söldner-Filme unter der Regie Antonio Margheritis („L‘ultimo cacciatore“ (Jäger der Apocalypse, 1980) ) auf dem Höhepunkt seiner Karriere befand. Zunehmend werden sie durch ein Geschehen aneinander geschweißt, das sprunghaft die Szenen wechselt, Spuren legt und Hinweise gibt, die nicht weiter verfolgt werden und Figuren einführt oder töten lässt, ohne die Hintergründe genauer zu betrachten.

Dank des stimmigen Setting, der Kameraführung und nicht zuletzt der Musik Fabio Frizzis sind Kritiker geneigt, über die Schwächen der Story hinwegzusehen, dabei lässt sich darin gerade die Stärke eines Films erkennen, der sich den üblichen Zombie-Adaptionen entzieht und zu einem halluzinatorischen Trip wird, in dem Reales nicht mehr von Irrealem unterschieden werden kann. Eine konsequente Weiterentwicklung der beiden ersten Zombie-Filme Fulcis, die seine Ankündigung im Filmtitel nicht als leeres Versprechen erscheinen lässt: „…auch du wirst im Schrecken leben!“

"...E tu vivrai nel terrore! L'aldilà" Italien 1981, Regie: Lucio Fulci, Drehbuch: Lucio Fulci, Dardano Sacchetti, Giorgio Mariuzzo,  Darsteller : David Warbeck, Catriona MacColl, Cinzia Monreale, Antoine Saint-John, Michele Mirabella, Laufzeit : 84 Minuten

Abschlussfilm des 5. Forumtreffens "Deliria Italiano" in Nürnberg vom 10. bis 11.10.2014

weitere im Blog besprochene Filme von Lucio Fulci:

Dienstag, 4. November 2014

La spiaggia (Der Skandal) 1954 Alberto Lattuada

Inhalt: Anna Maria Mentorsi (Martine Carol) bekommt ihre kleine Tochter am Bahnhof von zwei Nonnen übergeben, in deren Kloster das Mädchen sonst untergebracht ist, um mit ihr einen kurzen Urlaub am Meer zu verbringen. Auf der Zugfahrt lernt sie Silvio (Raf Vallone), den Bürgermeister von Pontorno kennen, der so sehr von seinem Städtchen schwärmt, dass sie spontan beschließt, dort aus zu steigen und in einem schönen, unmittelbar am Strand gelegenen Hotel, ein Zimmer findet.

Als sie am erstmals zum Strand geht, findet sie diesen menschenleer vor und döst mit ihrer Tochter im Arm ein, bis sie vom Lärm vieler Badegäste geweckt wird. Tatsächlich herrscht großer Trubel in dem Badeort, womit die zurückhaltende hübsche Frau nicht gerechnet hatte. Da sie sehr freundlich behandelt wird, beginnt sie langsam Bekanntschaften zu machen, bis ein ehemaliger Klient sie erkennt und als Prostituierte entlarvt...




Die faschistische Mussolini-Administration und der Krieg lagen erst wenige Jahre zurück, die Schäden waren noch lange nicht beseitigt, aber im Land herrschte Aufschwung und Optimismus. Nicht nur Deutschland, auch Italien erlebte in den 50er Jahren ein "Wirtschaftswunder" - die Prosperität wuchs und der sommerliche Urlaub am Mittelmeer wurde wieder zur Normalität. Per Zug fielen besonders Frauen und Kinder im August in die Feriendomizile ein, während viele Ehemänner nur an den Wochenenden dazu stießen, da sie weiter arbeiten mussten. Auf Grund der geografischen Nähe der Städte zu den Badeorten eine Besonderheit, die im italienischen Film häufig thematisiert wurde ("Peccato veniale", (Der Filou, 1974)), denn es war ein offenes Geheimnis, dass der Freiraum weidlich genutzt wurde. Oder wie ein kleiner Junge im Anblick des eintreffenden Zugs, auf den sommerlich leicht geschürzte Frauen am Bahnsteig warten, seinen Vater fragt: "Was bedeutet es, dass der Zug voll gehörnter Ehemänner ist?"

Regisseur Lattuada, dessen Kriegsheimkehrer-Drama "Il Bandito" (Der Bandit, 1946) zu den frühen neorealistischen Filmen zählt, widmete sich in "La spiaggia" (übersetzt "Der Strand") der sommerlichen Seite des Lebens mit Meer, Spaß und Liebeleien. Während die Kinder Burgen bauen und am Wasser spielen, lassen sich ihre Mütter von gut gebräunten jungen Männern verwöhnen, die im Hintergrund auch mal einen doppelten Salto vom Sprungbrett zum Besten geben. Die Bars und Promenaden werden von für den Entstehungszeitraum des Films erstaunlich leicht geschürzten jungen Damen bevölkert und Mario Carotenuto, in den 70er Jahren als Witzfigur einer der führenden Nebendarsteller in der "Commedia sexy all'italiana" ("La dotoressa del distretto militare" (Die Knallköpfe der 6.Kompanie, 1976)), gab hier schon früh eine Kostprobe seiner Paraderolle des selbstgefälligen Spießbürgers mit dominanter Ehefrau, der sein Glück vergeblich bei anderen Frauen sucht. Trotz dieser humorvollen Aspekte, einer schwungvollen Inszenierung und gewagter erotischer Einblicke in schönstem Ferrania-Color erlangte Lattuadas Film keine große Popularität und ist heute nahezu vergessen.

Denn der Regisseur meinte es ernst. Seine Sicht auf den Egoismus und die Doppelmoral der Italiener ist weder überzeichnet, noch ironisch, sondern von einem beißenden Realismus, der kein Urlaubs-Feeling hinterlässt. Die Konfrontation einer Spaß-Gesellschaft mit einer Prostituierten bedarf des Blicks in die 50er (und sicherlich noch 60er) Jahre, um die Wirkung auch auf die damaligen Betrachter des Films nachvollziehen zu können. Prostituierte waren im Neorealismus nicht ungewöhnlich (in „Il Bandito“ spielte Anna Magnani eine Bardame), aber ihnen blieb die Nähe zu ihrem Gewerbe jederzeit anzumerken, ihre Optik entsprach dem Klischee. In „La spiaggia“ inszenierte Lattuada seine Protagonistin dagegen als seriös gekleidete junge Frau mit einer kleinen Tochter, die sich als Witwe ausgeben muss, da eine ledige Mutter, unabhängig von ihrem Beruf, schon gegen das moralische Diktat verstieß.

Lattuadas Wahl der französischen Darstellerin Martine Carol für die Hauptrolle war ein zusätzlicher Schachzug, denn Carol galt seit „Caroline chérie“ (Im Anfang war nur Liebe, 1951) als Sex-Symbol und war in vielen ihrer Filme in mindestens einer Szene nackt zu sehen. In „La spiaggia“ blieb sie stets hochgeschlossen und selbst gegenüber dem sich um sie ernsthaft bemühenden Silvio (Raf Vallone), dem Bürgermeister des Urlaubsorts Pontorno, zurückhaltend. Sie benahm sich damit nicht nur entgegengesetzt zur Erwartungshaltung an ihre Rolle, sondern auch zu einer Umgebung, die hemmungslos ihrem Vergnügen nachging. Wunderbar sezierend auch die Nebengeschichte um eine dank ihrer Frauen-Ratgeber-Zeitungskolumne in der Öffentlichkeit stehende Autorin, die mit Verweis auf ihren Arbeitgeber bedauernd die ständigen privaten Fragen ihrer Umgebung ablehnt. Tatsächlich schreibt ihr Liebhaber die Texte, der wiederum schnell das Weite sucht, als der Wochenend-Zug am Urlaubsort eintrifft. Seine Frau und seine zwei kleinen Kinder befinden sich an Bord.

Die von Lattuada beabsichtigte Provokation der bürgerlichen Gesellschaft und die Offenlegung ihrer verlogenen Scheinmoral hat inzwischen viel von ihrer Wirkung verloren, aber Mitte der 50er Jahre griff der Regisseur damit eherne moralische Gesetze an – eine Intention, die auch seine späteren Filme prägte. Beruhte die Verpflichtung der damals 33jährigen Martine Carol auf der Umkehrung ihres Rufs als Sex-Symbol, besetzte er ab „Guendalina“ (Gwendalina, 1957) mehrfach sehr junge Darstellerinnen und inszenierte sie bewusst erotisch. Auch Catherine Spaak, damals erst 15jährig, verhalf er mit "I dolci inganni" (Süße Begierde, 1960) auf diese Weise zum Karrierebeginn. Keine zufällige Wahl, denn ihr Vater Charles Spaak war ebenfalls am Drehbuch zu "La spiaggia" beteiligt. Lattuadas offener Umgang mit der Sexualität verstand sich als anti-bürgerlich und war eine konsequente Weiterentwicklung seiner neorealistischen Filme – ein häufiges Motiv linksgerichteter Regisseure in den 50er und frühen 60er Jahren, die damit den Boden für die zunehmende Liberalisierung bereiteten.

„La spiaggia“ deshalb ausschließlich historische Verdienste zuzugestehen - etwa als Vorläufer der „Commedia sexy all’italiana“ - wäre trotzdem falsch, denn dafür ist Lattuada zu pessimistisch, seine Kritik am Bürgertum, die weit über deren Doppelmoral hinausgeht, zu fundamental. Außer der unverheirateten Mutter, die gezwungen ist, ihre Tochter in einem Nonnenkloster aufziehen zu lassen, existiert im Film nur der Bürgermeister als positiv besetzte Figur, dessen Versuche, ihr beizustehen, sich als wirkungslos erweisen. Aber es gibt noch den Millionär Chiastrino (Carlo Bianco), einen alten Misanthropen, der mit Niemandem redet und das Treiben am Strand mit seinem Fernglas beobachtet. Er ist in der Lage, die Meinung des Volkes zu beeinflussen, denn sein Reichtum qualifiziert ihn dazu in den Augen einer Umgebung, die um seine Sympathie buhlt. Doch seine der jungen Mutter angebotene Hilfe bedeuten Rettung und Niederlage zugleich.

"La spiaggia" Italien, Frankreich 1954, Regie: Alberto Lattuada, Drehbuch: Alberto Lattuada, Luigi Malerba, Charles Spaak, Rodolfo Sonego,  Darsteller : Martine Carol, Raf Vallone, Carlo Bianco, Mario Carotenuto, Clelia Matania, Laufzeit : 98 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Alberto Lattuada:

Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.