Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Donnerstag, 27. März 2014

Il cittadino si ribella (Ein Mann schlägt zurück) 1974 Enzo G.Castellari

Inhalt: Als der Ingenieur Antonelli (Franco Nero) Geld bei der Post einzahlen will, wird die Filiale mitten in Genua überfallen. Die drei Täter gehen rigoros vor und schüchtern damit die anwesenden Kunden und Angestellten ein. Nur Antonelli will sich so leicht nicht bestehlen lassen und versucht sein noch am Tresen liegendes Geld wieder einzustecken. Ein Fehler, denn sein Handeln wird nicht nur brutal geahndet, sondern er wird von den Verbrechern als Geisel mit geschleift und erlebt unter Todesangst deren rasende Flucht. Ernst nehmen die Männer ihn nicht, ziehen ihre Masken vom Gesicht und schmeißen ihn aus dem Wagen, nachdem sie die Polizei hinter sich gelassen hatten.

Antonelli, der erst wenige Monate zuvor schon Opfer der Verbrecherwelle geworden war, als Vandalen seine Wohnung verwüsteten, fühlt sich gedemütigt und von der Polizei im Stich gelassen, die ihm sogar eine Mitschuld zuspricht, da er sich in der Post nicht passiv verhalten hätte. Die Justizbehörden stehen bei der Bevölkerung generell als unfähig in der Kritik, weshalb sich Antonelli im Recht fühlt, als er versucht, die drei Räuber selbst ausfindig zu machen…


"Il cittadino si ribella" (Ein Mann schlägt zurück) kam wenige Monate nach Michael Winners "Death wish" (Ein Mann sieht rot, USA 1974) in die Kinos, in dem Charles Bronson die Hauptrolle spielte, der in den Jahren zuvor an vielen italienischen Produktionen beteiligt war - zuletzt an "Valdez, il mezzosangue" (Wilde Pferde, 1973) -  weshalb er Enzo G.Castellari hinsichtlich der Selbstjustiz-Thematik als Vorbild gedient haben könnte. Doch abgesehen vom generellen Einfluss des Italo-Western - in "C'era una volta il west" (Spiel mir das Lied vom Tod, 1968) verkörperte Bronson einen Rächer, dessen Vorgehen durch den weniger zivilisatorischen Hintergrund des "Wilden Westen" legitimiert war - verfügt "Il cittadino si ribella" über einen spezifisch italienischen Stammbaum, der maßgeblich das Polizieschi-Genre beeinflusste und das Motiv bürgerlicher Selbstjustiz unterschiedlich zu Winner interpretierte.

"Il cittadino si ribella" (wörtlich: Der Bürger lehnt sich auf) kombinierte zwei der wichtigsten Protagonisten des Polizieschi miteinander - Regisseur Enzo G.Castellari und Drehbuchautor Massimo De Rita. De Rita hatte nicht nur mit "Banditi a Milano" (1968) und "Rome come Chicago" (Mord auf der Via Veneto, 1968) die stilistische Basis gesetzt, sondern diese über Sollimas "Città violenta" (Brutale Stadt, 1970) bis zu Romolo Guerrieris "La polizia è al servizio del cittadino?" (Auf verlorenem Posten, 1973) weiter entwickelt. Enzo G.Castellari, Guerrieris Neffe, schuf mit "La polizia incrimina la legge assolve" (Tote Zeugen singen nicht, 1973) parallel einen frühen stilbildenden Poliziesco, der ähnlich wie Guerrieris Film die Grenzen zur Selbstjustiz am Verhalten des ermittelnden Beamten auslotete. Die Frage nach der "Wahl der Mittel" im Kampf gegen das Verbrechen wurde zum Grundbestandteil des Polizieschi-Genres.

Dass Franco Nero nach seiner Rolle als Commissario in Castellaris Vorgängerfilm hier als Bürger versucht, die Verbrecher zu überführen, war ein geschickter Schachzug. Nero verkörperte im Western wie im Kriminalfilm meist den cool vorgehenden Vigilanten, der die Sympathien des seine Intentionen teilenden Publikums hinter sich wusste. Nicht zufällig erinnert „Il cittadino si ribella“ in der Charakterisierung des gesellschaftlich anerkannten Ingenieurs Antonelli (Franco Nero), der sich von den behördlichen Instanzen nicht ausreichend unterstützt sieht, an Neros Rolle in Damiano Damianis „l’istruttoria è chiusa: dimentichi“ (Das Verfahren ist eingestellt: vergessen Sie's, 1971), denn dort brach Massimo De Rita erstmals mit Neros überlegen agierendem Image und verwandelte die nur vordergründig kämpferische Attitüde in ein angepasstes Verhalten – eine fatalistische Interpretation des sonst in seinen Rollen so couragiert agierenden Schauspielers.

Auch wenn die Polizei in „Il cittadino si ribella“ nur eine untergeordnete Rolle spielte, ist sie in der Figur des lakonischen, scheinbar passiv handelnden Commissario (Renzo Palmer) notwendig als kontrastierendes Element zu dem aktionistischen Antonelli, der die Erniedrigung durch die drei brutalen Räuber, die ihn nach ihrem Postraub als Geisel nahmen, nicht überwinden kann. Schon „La polizia ringrazia“ (Das Syndikat, 1972) gewährte einen Blick auf die Vielfalt krimineller Aktivitäten, aber erst Castellari fügte in seiner atemberaubenden, von der treibenden Musik der De Angelis-Brüder begleiteten Eingangssequenz, Verbrechen an Verbrechen wie es im Polizieschi-Genre später üblich werden sollte: etwa unter der Regie von Umberto Lenzi in „Roma a mano armata“ (Die Viper, 1976) - thematisch noch weiter ausgeführt - oder von Bruno Corbucci mehr humorvoll genutzt in „Squadra antiscippo“ (Der Superbulle mit der Strickmütze, 1976).

Antonelli nimmt in diesem Chaos aus Überfällen, Mord und Diebstahl nur eine Nebenrolle ein, mehr als zufällig störendes Element, und kommt fast mit heiler Haut davon, weshalb sowohl seine Freundin Barbara (Barbara Bach), als auch die Polizei seine Rachegelüste ablehnen, ihm sogar vorwerfen, sich selbst in die gefährliche Situation gebracht zu haben – eine gegensätzliche Ausgangssituation zu der in „Death wish“. Bronsons eigenmächtiges Vorgehen erhielt seine Akzeptanz durch das ihm persönlich zugefügte schwere Leid – der Mord an seiner Frau und Tochter. Franco Neros Rolle steht dagegen stellvertretend für das Bürgertum. Geschickt trennten Castellari und De Rita sein weiteres Vorgehen von seinem minderschweren persönlichen Schicksal, indem sie mit einem übergeordneten Blick auf eine ausufernde Kriminalität populistische Forderungen nach Selbstjustiz vordergründig legitimierten, diese letztlich aber als egoistisch, kleingeistig und selbst korrumpierend offen legten.

Antonelli gerät bei dem eigenmächtigen Versuch, die drei Räuber ausfindig zu machen, schnell an seine Grenzen. Die Szene, in der er sich in eine einschlägig bekannte Bar begibt, um an Informationen zu gelangen, gehört zu den bekanntesten Stilelementen des Polizieschi-Genres. Doch während ein Maurizio Merli oder Luc Merenda auch allein in der Lage waren, die versammelten Verbrecher zu vermöbeln, häufig unter Verwendung eines Billard-Queues, steht Antonelli der Übermacht chancenlos gegenüber und kann nur fliehen. Erst durch die Hilfe des Klein-Kriminellen Tommy (Giancarlo Prete) gelingt es ihm, näher an die Täter heranzukommen. Dass er Tommy dazu erpresst, lässt schon seine persönliche Auslegung des Rechtsempfindens erkennen, aber Antonelli begreift immer noch nicht die inneren Zusammenhänge der Szene, deren Gesetze er schmerzhaft lernen muss. Erneut in die Gewalt der drei Verbrecher geraten, nachdem er Tommy zu früh vertraut hatte, rettet ihm dieser schließlich doch das Leben – ein Umstand, der Antonelli nur weiter antreibt.

Der abschließende Show-Down, den Antonelli mit einer vorgetäuschten Straftat provoziert, besitzt keine kathartische Wirkung und dient nicht als Vorbild. Im Gegenteil – das Ergebnis ist ein Zufallsprodukt der Gewalt, ohne das der selbst ernannte Rächer einen Moment lang Herr der Lage ist. Dass die Polizei ihn am Ende gehen lässt, ohne ihn wegen seiner begangenen Straftaten zu belangen, ist kein Zugeständnis, sondern lässt erst dessen amateurhaftes, selbstherrliches Vorgehen deutlich werden, dass keine weitere Aufmerksamkeit verdient. Der - angesichts eines weiteren bei der Polizei aufbegehrenden Bürgers - zufrieden grinsende Antonelli begreift nicht, dass er sich längst selbst in den Niederungen aufhält, die er zu bekämpfen vorgibt. Enzo G.Castellaris und Massimo De Ritas gemeinsamer Poliziesco prägte nicht nur das Genre, sondern wurde auch zu einem so fulminanten wie differenzierten Beitrag zum Thema Selbstjustiz.

"Il cittadino si ribella" Italien 1974, Regie: Enzo G. Castellari, Drehbuch: Massimo De Rita, Arduino Maiuri, Darsteller : Franco Nero, Barbara Bach, Giancarlo Prete, Renzo Palmer, Nazzareno Zamperla, Laufzeit : 98 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Enzo G. Castellari:

Mittwoch, 12. März 2014

La mala ordina (Der Mafiaboss - Sie töten wie Schakale) 1972 Fernando Di Leo

Inhalt: In der New Yorker Mafia-Zentrale erteilt Corso (Cyril Cusack) geschäftsmäßig den Befehl an die zwei Profi-Killer Catania (Henry Silva) und Webster (Woody Strode), nach Mailand zu fliegen, um dort Luca Canali (Mario Adorf) zu töten – ganz offiziell und mit Unterstützung der Mailänder Mafia. Deren Boss Tressoldi (Adolfo Celi) reagiert keineswegs erfreut auf die Ankunft der US-Killer, die ihn dazu auffordern, ihnen Canali auszuliefern, denn er versteht nicht, warum seine eigenen Leute den Job nicht erledigen sollen.

Tressoldi befürchtet, dass ihm die New Yorker auf die Schliche gekommen sind, dass er selbst die Drogengelder gestohlen hat und nicht der Zuhälter Canali, dem er diese Tat untergeschoben hat. Canali, der sich wie gewohnt um seine Prostituierten kümmert und zwischendurch seine kleine Tochter trifft, die er nach der Scheidung von seiner Frau (Silvia Koscina) nur noch selten sieht, ahnt nicht, was auf ihn zukommt. Nicht nur die beiden Killer, auch Tressoldi hat es auf ihn abgesehen, um den New Yorkern zuvor zu kommen…


Neben dem schrillen deutschen Filmtitel "Der Mafia Boss - sie töten wie Schakale" existieren noch eine Vielzahl weiterer Varianten in unterschiedlichen Sprachen, darunter "Manhunt in the city" oder "L'empire du crime". Nur die schlichte Übersetzung des Originaltitels "La mala ordina" fehlt, obwohl damit der Inhalt des Films ideal beschrieben wurde. "Ordina" bedeutet Reihenfolge, Ordnung, Auftrag oder Befehl und fasst in einem Begriff die Grundlagen des organisierten Verbrechens zusammen, die auf strengen hierarchischen Regeln beruhen, die keine Abweichung dulden. Das Attribut "mala" (schlecht) scheint entsprechend überflüssig, aber es vermittelt erst die Komplexität einer inneren Abhängigkeit, der sich Niemand entziehen kann.

Der Befehl der New Yorker Mafia-Zentrale an die zwei Profi-Killer Catania (Henry Silva) und Webster (Woody Strode), den Mailänder Zuhälter Luca Canali (Mario Adorf) zu töten, erscheint vordergründig "schlecht", ist aber nur die Folge eines Verstoßes gegen die innere Ordnung. Der ortsansässige Boss Tressoldi (Adolfo Celi) hatte sich persönlich an Drogengeldern bedient und den Kleinkriminellen Canali als Bauernopfer vorgeschoben. Fernando Di Leo lässt offen, ob die ungewöhnliche Maßnahme, zwei Profis aus den USA für einen Job zu schicken, den jeder gedungene Mörder in Mailand auch hätte ausführen können, darauf beruht, dass New York die Mailänder Abteilung durchschaut hat, aber er offenbart damit die Fragilität eines Systems, dass keine Abweichung verträgt und jeden Beteiligten zum Opfer werden lässt.

Auch in Di Leos zuvor gedrehtem Film "Milano calibro 9" (Milano Kaliber 9, 1972) ging es um die inneren Mechanismen des organisierten Verbrechens und geriet der Protagonist in eine unausweichlich scheinende tödliche Situation, aber die Auseinandersetzungen fanden noch persönlich statt und wurden entsprechend emotional geführt. Dass Luca Canali getötet werden soll, ist dagegen nur noch die Folge strategischer Überlegungen ohne persönliche Ressentiments. Mario Adorf agiert hier zwar sympathischer als in seiner Rolle als Mann fürs Grobe in "Milano calibro 9", aber sein Wechsel vom Täter zum Opfer bedarf nur einer minimalen Verschiebung innerhalb des Mafia-Kosmos. Mit dem Verzicht auf staatliche Ermittler betonte Di Leo zudem die Gefährlichkeit dieser kriminellen Institution nicht nur für die Allgemeinheit, sondern auch für jedes seiner Mitglieder. Dass sich Luca Canali gegen seine Opferrolle wehrt und dem Film nach dem brutalen Mord an seiner Ex-Frau und seiner kleinen Tochter mit seinem Furor Emotionen verleiht, erzeugt zwar Schwung und lässt einige Mafia-Granden alt aussehen, ändert wie das äußerlich coole Verhalten der nur auf Befehl handelnden beiden Killer aber nichts daran, dass sie reagierende und innerhalb des Systems schwache Figuren bleiben – dem Ende, dem keine kathartische Wirkung mehr anhaftete, lässt sich entsprechend wenig Optimistisches abgewinnen. 

Viel mehr nutzte Fernando Di Leo die Charaktere der drei Protagonisten und ihr Umfeld zu einer kritischen Betrachtung des damaligen moralischen Wandels in der Gesellschaft, womit er sich endgültig vom Italo-Western verabschiedete, dessen Einfluss auf „Milano calibro 9“ noch deutlich spürbar war. Sex findet nur noch am Straßenstrich, auf Hotelzimmern oder nach Partys statt und die Anzahl nackt agierender Frauen hätte jedem Erotik-Film gut zu Gesicht gestanden. Luca Canali schläft zwar mit Nana (Femi Benussi), eine seiner Prostituierten, aber mit Liebe hat das nichts mehr zu tun, wie sie in „Milano calibro 9“ noch eine - wenn auch tragische - Rolle spielte. Di Leos fatalistische Sichtweise sollte sich im nachfolgenden „Il boss“ (Der Teufel führt Regie, 1973) weiter fortsetzen. Die Beziehung zwischen dem Profi-Killer und der entführten Mafiaboss-Tochter ist ein Paradebeispiel an selbstsüchtiger Egozentrik, während die attraktive weibliche Darstellerriege hier – neben Femi Benussi, noch Luciana Paluzzi, Silvana Koscina und Francesca Romana Caluzzi – selbstbewusst agierte. Francesca Romana Caluzzi als der freien Liebe frönende Linke mit Che Guevara-Poster an der Wand ist zwar ein Klischee, aber als eine von Wenigen entzieht sie sich der Erwartungshaltung ihrer Umgebung und gewinnt durch ihre Unabhängigkeit Sympathien.

„La mala ordina“ scheint angesichts der Abwesenheit jeder Staatsgewalt weniger als Fernando Di Leos frühere Filme „I ragazzi del massacro“ (Note 7 – die Jungen der Gewalt, 1969) und „Milano calibro 9“ dem „Polizieschi“ – Genre anzugehören, entwickelte den Kriminalfilm aber entscheidend weiter. Neben der zunehmenden Verzahnung mit den moralischen und gesellschaftspolitischen Veränderungen, wie sie typisch für das Genre werden sollte, blieb es in „La mala ordina“ zwar noch einem Mitglied des Milieus vorbehalten, Selbstjustiz zu üben, aber schon in dem wenig später gedrehten "Milano trema - la polizia vuole giustizia" (1973) von Sergio Martino übernahm der Commissario diese Aufgabe selbst. Gespielt von Luc Merenda, dem Fernando Di Leo in „Il poliziotto é marcio“ (1974), der „Il boss“ folgte, die Rolle des gnadenlosen Rächers zuweisen sollte.

"La mala ordina" Italien, Deutschland 1972, Regie: Fernando Di Leo, Drehbuch: Fernando Di Leo, Augusto Finocchi, Giorgio Scerbanenco (Kurzgeschichte), Darsteller : Mario Adorf, Henry Silva, Woody Strode, Luciana Paluzzi, Adolfo Celi, Femi Benussi, Cyril Cusack, Laufzeit : 102 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Fernando Di Leo:

"Milano calibro 9" (1972)

Sonntag, 9. März 2014

Milano calibro 9 (Milano Kaliber 9) 1972 Fernando Di Leo

Inhalt: Mit scheinbarer Perfektion wechselt ein Geldpaket unauffällig von Hand zu Hand, doch als es bei seinem Adressaten anlangt, befindet sich nur Zeitungspapier darin. Jemand aus der Kette der Beteiligten muss das Geld gestohlen haben, wodurch Rocco (Mario Adorf) auf den Plan gerufen wird, der als Mann fürs Grobe dem „Americano“ (Lionel Stander) dient, einem einflussreichen Mailänder Boss, der aus den USA stammt. Doch auch sein hartes Durchgreifen lässt die verschwundenen Dollars nicht wieder auftauchen, weshalb aus Sicht des Gangsterbosses nur noch Ugo Piazza (Gastone Moschin) als möglicher Täter übrig bleibt, der unmittelbar nach dem Diebstahl verhaftet wurde und drei Jahre im Gefängnis saß.

Es hilft ihm nicht, zu beteuern, dass er das Geld nicht genommen hat, denn Rocco wartet schon auf ihn und lässt ihn keinen Moment in Ruhe. Mehrfach wird er verprügelt und bleibt nur am Leben, weil seine Peiniger erst das Versteck erfahren wollen. Fast verzweifelt wäre Piazzas Lage, wäre da nicht die schöne Nachtclub-Tänzerin Nelly (Barbara Bouchet), mit der er früher zusammen war. Sie hatte ihn zwar nie im Gefängnis besucht, aber jetzt empfängt sie ihn mit offenen Armen…


Fernando Di Leos von 1972 bis 1973 in die Kinos gekommenen Filme "Milano calibro 9" (Milano Kaliber 9, 1971), "La mala ordina" (Der Mafiaboss - sie töten wie Schakale, 1972) und "Il boss" (Der Teufel führt Regie, 1973) gelten heute als "Mafia"-Trilogie, da sie sich - obwohl inhaltlich voneinander unabhängig - jeweils aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der "Mafia"- Thematik auseinandersetzten. So griffig und werbewirksam eine solche Bezeichnung der frühen Phase Di Leos, Anfang der 70er Jahre, heute erscheinen mag, so sehr vermittelt diese eine thematische Abgeschlossenheit, die seinen insgesamt zehn zwischen 1969 und 1977 dem Genre des "Polizieschi" zuzurechnenden Filmen nicht gerecht wird, die fast prototypisch dessen Entwicklung ausgehend vom Italo-Western parallel zu den gesellschaftspolitischen Veränderungen nachzeichneten.

"I ragazzi del massacro" (Note 7 - die Jungen der Gewalt,1969) war noch mehr Gesellschaftsstudie als Kriminalfilm und reagierte auf typische bürgerliche Ängste angesichts einer revoltierenden Jugend, bevor Fernando Di Leo mit "Milano calibro 9" seinen einzigen Italo-Western als Regisseur schuf, genauer die neben Sergio Sollimas "Città violenta" (Brutale Stadt, 1970) und "Revolver" (Die perfekte Erpressung, 1973) ideale Kombination aus Polizeifilm und Western - ein Genre, an dem er als Drehbuchautor entscheidend mitgewirkt hatte. Nachdem er bei den zwei ersten Sergio Leone-Western "Per un pugno di dollari" (Für eine Handvoll Dollar, 1964) und "Per qualche dollaro in più" (Für ein paar Dollar mehr, 1965) dem Autoren-Team angehörte, bewies er mit "Il ritorno di Ringo" (Ringo kommt zurück, 1965) und "Le colt cantarono la morte e fu... tempo di massacro" (Django - sein Gesangsbuch war der Colt, 1966) früh Eigenständigkeit. Mit "Ognuno per se" (Das Gold von Sam Cooper, 1968) hatte er noch wenige Jahre zuvor einen prägenden Western geschrieben, bevor er das Thema eines Einzelgängers, der nach Jahren in seine Heimat zurückkehrt und sich seiner Vergangenheit stellen muss, in die italienische Gegenwart transferierte.

Dass er die Story von "Milano calibro 9" innerhalb des organisierten Verbrechens ansiedelte, war folgerichtig und wurde prägend für den Polizieschi, in dem es fast immer ums große Ganze und selten um einzelne Kriminalfälle ging. Auch im Italo-Western bekam es der "Held" in der Regel mit einer Übermacht zu tun, die von einem in der bürgerlichen Gesellschaft angesehenen Großgrundbesitzer streng hierarchisch geleitet wurde. Zu einer solchen Truppe gehörte immer ein Mann für die Drecksarbeit, eine Figur, die Mario Adorf als Rocco geradezu beängstigend überzeugend in ihrer Mischung aus Brutalität, Sadismus und absoluter Hörigkeit gegenüber seinem Boss interpretierte. Auch Gastone Moschin als Piazza, der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis mit den ehemaligen Kumpanen konfrontiert wird, die ihm unterstellen, Drogengelder gestohlen zu haben, agierte faszinierend als stoischer Einzelgänger, der erst leiden muss, bevor der von seiner Umgebung unterschätzte Mann zurückschlägt - eine klassische Western Konstellation.

Die "Mafia"-Thematik spielte in "Milano calibro 9" dagegen noch eine untergeordnete Rolle, mehr als Hintergrund für die inneren psychologischen Abhängigkeiten unter den ehemaligen und aktuellen Bandenmitgliedern. Eine in ihrer Ganovenehre fast romantisch anmutende Figur wie Chino (Phillipe Leroy), der seinen erblindeten Boss in einer einfachen Wohnung betreut, und den Piazza (Gastone Moschin) als Einzigen um Hilfe bittet, wäre in Di Leos folgenden, die Mechanismen der Mafia in ihrem ganzen Zynismus entlarvenden Filmen unvorstellbar. Auch die Beziehung zu der Nachtclub-Tänzerin Nelly (Barbara Bouchet), die Piazza wieder mit offenen Armen aufnimmt, entsprach in ihrer Zwiespältigkeit mehr einem klassischen Drama und erzeugte eine emotionale Nähe zu dem Protagonisten, unterstützt von der eindringlichen Musik Luis Bacalovs, die Fernando Di Leo in seinen folgenden Filmen zunehmend verlor. Dank seines Temperaments konnte Mario Adorf in "La mala ordina" noch eine Identifikation mit seiner Rolle als Zuhälter aufbauen, in "Il boss" existieren solche Emotionen nicht mehr.

Eine von Di Leo beabsichtigte Richtung, die den Weg zum klassischen Poliziesco, in dem ein Einzelgänger gegen eine Übermacht aus Korruption und Verbrechen antrat, vorbereitete. Der in Deutschland nahezu unbekannte "Il poliziotto è marcio" (1974) mit Luc Merenda in der Hauptrolle als Rache nehmender Polizist setzte diese Linie konsequent fort. Anders als „Milano calibro 9“ der über die grobe Mafia-Thematik hinaus kaum Ähnlichkeiten zu „Il boss“ aufweist, werden die Parallelen in „Il poliziotto è marcio“ schon in der Anfangsszene offensichtlich, in der ein Gangsterboss und seine mit Maschinengewehren bewaffneten Männer eine Gruppe gnadenlos massakrieren, weil sie es gewagt hatten, mit Anderen Geschäfte zu machen. Dagegen erinnern die Szenen in „Milano calibro 9“, in denen zwei Polizei-Offiziere (Frank Wolff und Luigi Pistilli) politisch kontrovers die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen diskutieren, noch an den Vorgängerfilm "I ragazzi del massacro" - ein solches gedankliches Engagement, unabhängig von der jeweiligen Haltung, traute Di Leo den Polizisten in "Il boss" nicht mehr zu.

Die Einordnung in eine Trilogie und besonders die damit verbundene Vergleichbarkeit können einem solitären Werk wie "Milano calibro 9" nicht gerecht werden, in dem Di Leo noch das menschliche Element suchte. Möglicherweise führte die daraus entstehende Tragik zur Konsequenz der folgenden Filme, in denen die Befindlichkeiten des Einzelnen innerhalb der Mechanismen einer gnadenlosen Verbrecherordnung keine Rolle mehr spielten.

"Milano calibro 9" Italien, Frankreich 1972, Regie: Fernando Di Leo, Drehbuch: Fernando Di Leo, Giorgio Scerbanenco (Roman), Darsteller : Gastone Moschin, Mario Adorf, Barbara Bouchet, Philipp Leroy, Frank Wolff, Luigi Pistilli, Lionel Stander, Laufzeit : 102 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Fernando Di Leo:

"La mala ordina" (1972)

Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.