Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Dienstag, 29. September 2009

Tony Arzenta (Tödlicher Hass) 1973 Duccio Tessari

Inhalt: Kurz nachdem er mit seinem Sohn dessen Geburtstag gefeiert hatte, erledigt Tony Arzenta (Alain Delon), ein für die Mafia arbeitender Killer, seinen letzten Job. Er will aussteigen und bittet deshalb Nick Gusto (Richard Conte) um seine Entlassung. Als dieser beim Treffen der Führungsschicht Arzentas Ansinnen vorträgt, stösst er nicht nur auf die erwartete Ablehnung, sondern wird zu den entsprechenden Konsequenzen aufgefordert.

Doch wegen eines Defekts an ihrem Wagen, nimmt Arzentas Frau, als sie ihren Sohn zur Schule bringen will, das Auto ihres Mannes. Sie st
erben durch die Bombe, die eigentlich Arzenta gegolten hätte...


1973, als Duccio Tessari "Tony Arzenta" ("Tödlicher Hass") mit Alain Delon in der Titelrolle inszenierte, war dieser seit Melvilles "Der eiskalte Engel" ("Le samourai") auf die Rolle des einsamen Killers festgelegt. Als ein Mann, der das Töten professionell und fehlerfrei erledigt, weshalb er jede Emotion und Abhängigkeit von Menschen zu vermeiden sucht. Eine Thematik, die seitdem in unzähligen Varianten wiederholt wurde. Doch obwohl Delons Rolle in Gestus und Vorgehensweise diesem Stereotypen auch in „Tony Arzenta“ entspricht, unterscheidet sich Tessaris Ansatz grundlegend, denn Arzenta hat schon eine Familie und sitzt zu Beginn des Films beim Kindergeburtstag seines Sohnes etwas betrübt auf der Couch.

Anstatt zu Feiern muss er noch einen Job erledigen und das ihm das nicht mehr gefällt, wird spätestens deutlich, als er seinen Boss Nick Gusto (Richard Conte) nach erfolgter Umsetzung darum bittet, ihn aus seiner Position zu entlassen. Er möchte nicht mehr für die Mafia arbeiten, sondern sich mehr um seine Familie kümmern. Da die Mafia nicht wie ein normaler Arbeitgeber funktioniert, beschließen die Bosse, nachdem Nick Gusto dieses Ansinnen beim gemeinsamen Treffen vortrug, entsprechende Konsequenzen. Doch durch einen unglücklichen Zufall stirbt nicht wie geplant Arzenta, sondern dessen Frau und Sohn. Fälschlicherweise wird sein Verhalten oft als Zeichen einer Todessehnsucht interpretiert, da die Reaktion der Mafiabosse auf seinen Wunsch vorhersehbar scheint, aber tatsächlich steckt etwas von einem Romantiker in Arzenta, der noch ernsthaft an den familiären Zusammenhalt der Mafiagemeinde glaubt.

Als typische Rachestory im Mafiamilieu entworfen, entwickelt Tessari unterschwellig eine emotionale Gegensätzlichkeit, die die Mafialegenden in einer Form demaskieren, wie es erst Scorsese viele Jahre später in „Goodfellas“ mit deutlich höherem Aufwand gelang. Nur in einer Szene kommt mit einem Polizisten eine Person vor, die nicht zum Milieu gehört, denn Tessari braucht keine äußere moralische Instanz, um die Maßnahmen der verantwortlichen Bosse als nur an der eigenen Bereicherung und dem eigenen Vergnügen orientierte Vorgehensweise zu offenbaren.

Diese geschäftsmäßige Kälte verdeutlicht sich nur langsam, denn äußerlich entwickelt Tessari ein typisches Bild des regionalen Zusammenseins von Kirche, Bürgern und dem allgegenwärtigen „Paten“, der sich um seine Schäfchen kümmert. Nicht ohne Grund vertraut sich Arzenta Nick Gusto mit seiner Bitte an, denn schon sein Vater arbeitete für die „Familie“ und selbst als er beginnt, den versehentlichen Tod seiner Familie zu rächen, bedeutet das keinerlei Kritik an der Institution an sich. Der deutsche Titel „Tödlicher Hass“ kann deshalb nur als veritable Fehlinterpretation angesehen werden, denn entsprechende Gefühle drückt Arzenta keinen Moment aus. Viel mehr wirkt seine Ruhe wie eine Erstarrung, die Denjenigen trifft, dem ausgerechnet durch seine Vertrauten die liebsten Menschen genommen wurden. Nicht überraschend ist es deshalb, dass er die Hand der Versöhnung annimmt, als auch sein Lebenswillen wieder zunimmt.

Geschickt spielt Tessari mit den Emotionen der Betrachter, die er damit aufs Glatteis führt, dass er diese Thematik in eine typische Actionstory einbettet mit blutigen Shoot - Outs, üblen Gewalttätigkeiten und Folterungen und nicht zuletzt in ihrer Direktheit sehr überzeugende Auto – Verfolgungsjagden, die auch vor unbeteiligten Opfern nicht zurückschrecken. Trotz seiner Rolle als Auftragskiller wird Arzenta zum Sympathieträger, was Tessari noch damit beschleunigt, dass er
die meisten Mafiabosse als miese Egomanen schildert, die den Tod mehr als verdient haben. Es sind die Details, die diesen Film von heute üblichen Revenge - Filmen unterscheiden. Sämtliche Abläufe geschehen ohne übertriebene Emotionen, was bispielhaft an der Abschiedsszene zwischen Arzenta und seinem Sohn erkennbar wird. Während in der Gegenwart solche Szenen bewusst hoch stilisiert werden, um eine Begründung für die kommende Selbstjustiz des Helden abzugeben, überzeugt diese Szene hier durch ihre Beiläufigkeit, mit der ein müder Vater seinem Sohn den Wagenschlüssel freundlich in die Hand drückt. Noch friedlich lächelnd muss er erleben, wie dieser durch eine Autobombe stirbt, und so wie Tessari hier auf übertriebene Tränen verzichtet, findet später auch kein Triumphgefühl angesichts der Leichen statt, die Arzenta in einer Mischung aus Selbstverteidigung (die Mafia will schließlich ihren Fehler korrigieren) und Rache hinterlässt.

Rache- oder Selbstjustiz-Thriller unterscheiden sich vor allem im Ergebnis der beschriebenen Handlungen. Auch „Tony Arzenta“ kann einen gewissen Unterhaltungswert der Tötungsszenen nicht leugnen, die von der Überheblichkeit der Opfer und dem geschickten Vorgehen des Rächers geprägt sind, aber sie erzeugen keine Befriedigung, sondern vermitteln den Eindruck von Sinnlosigkeit, weshalb Arzenta langsam die Lust an seinem Rachefeldzug verliert, der zunehmend auch seinen Freundes- und Familienkreis gefährdet. Anders als in aktuellen Werken des Genres verzichtet der Film auf eine künstliche Lösung, die den Konflikt aus der Sicht des Rächers abschließt, der hier sogar wieder neue Gefühle für eine andere Frau entwickelt - undenkbar in den heutigen moralisch hochstilisierten Zeiten. Für Tessari kann es keine Lösung aus dieser Gewaltspirale geben, aber die Kälte die er dabei vermittelt, schockiert in ihrer abschließenden Konsequenz.


"Tony Arzenta" Italien, Frankreich 1973, Regie: Duccio Tessari, Drehbuch: Franco Verucci, Ugo Liberatore, Darsteller : Alain Delon, Richard Conte, Carla Gravina, Marc Porel, Roger Hanin, Laufzeit : 100 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Duccio Tessari:

Freitag, 25. September 2009

Salò o le 120 giornate di Sodoma (Die 120 Tage von Sodom) 1975 Pier Paolo Pasolini

Inhalt: 1944 - ein Schloss in Marzabotto gibt den Hintergrund für ein grausames Spiel, dass vier Würdenträger zum eigenen Vergnügen veranstalten. Sie sind Mitglieder der Führungselite der "Republik Salò", einer von den Nationalsozialisten kontrollierten Republik in Norditalien, deren faschistische Regierung mit Benito Mussolini als Führer zwar nur Marionettencharakter hat, aber über eine unkontrollierbare Macht gegenüber der Zivilbevölkerung verfügt. Diese nutzen die vier Honoratioren weidlich aus, lassen sich von Wehrmachtsangehörigen sechzehn junge Menschen an das Schloss liefern und beginnen ein ausgeklügeltes Experiment, dass vor keiner Erniedrigung und Gewalttat Halt macht. Dafür benötigen sie keineswegs die weitere Unterstützung der deutschen Besatzungsmacht, sondern nutzen die Verhaltensmuster der eigenen Landsleute, die ihnen die Umsetzung ihres Planes leicht machen...

Einen Film nach Marquis De Sade’s „Die 120 Tage von Sodom“ umsetzen zu wollen, setz
t einen zutiefst pessimistischen Blick auf das menschliche Dasein voraus, denn zu diesem während De Sade`s Einkerkerung entstandenen Schriftstück ist eine neutrale Haltung nicht möglich. Schon daran kann man erkennen, wie genau Pier Paolo Pasolini den Geist dieser Abhandlung, deren Form und Sprache sich jeder üblichen Einordnung verweigert, in seinem Film erfasst hat. Unabhängig davon, wie man seinen Film bewerten mag, zwingt er jeden Betrachter dazu, Stellung zu beziehen.

Die Vielzahl der Interpretationen und Versuche, Pasolinis Intentionen zu verstehen, lassen oft übersehen, wie genau sich der Regisseur an De Sade’s Vorlage hielt, die ja nicht nur eine Beschreibung menschlicher Abartigkeiten darstellt, sondern selbst in ein strenges symmetrisches Konzept gezwängt ist. So unterteilt De Sade die 120 Tage in vier Teile zu 30 Tagen, von denen er den ersten Teil detailliert schildert, während die weiteren Teile nur konzeptionell beschrieben sind. Die Unterteilung empfindet Pasolini nach, indem er seinem Film vier Kapitel gibt, die sich auf Dantes „Göttliche Komödie“ beziehen. Hier ist der erste kreative Ansatz zu erkennen, der dem De Sade’schen Werk eine weitere Facette hinzufügt, denn Dante beschreibt in seinen Gesängen den Weg von „
Der Hölle (Inferno)“ über den „Läuterungsberg“ bis zum „Paradies“. Doch bis dahin kommt Pasolinis Film nicht, der mit seinen vier Kapiteln über die „Vorhölle“ und drei „Höllenkreise“ im „Inferno“ verbleibt und keine Hoffnung auf eine Läuterung zulässt.

Ein weiterer gestalterischer Ansatz liegt darin, die im vorrevolutionären Frankreich 1785 entstandene literarische Vorlage, in die von den Nazis kontrollierte Republik Salò in Norditalien 1944 zu verlegen. In diesem Zusammenhang muss man De Sade’s Weitblick bewundern, der seinem Werk eine Rechnung hinzugefügt hatte, in der mit Hilfe von Addition und Subtraktion die Anzahl der Getöteten und Überlebenden zum Ende der 120 Tage buchhalterisch aufgelistet wird. Diese perverse Logik erinnert an die maschinelle, unmenschliche Methodik, mit der die Nazis ihre Konzentrationslager betrieben, sowie an das Massaker an der italienischen Zivilbevölkerung durch die deutsche Wehrmacht und SS, dass 1944 in Marzabotto stattfand, dem Ort, an dem Pasolini seinen Film spielen lässt.

Doch die häufig geäußerte Interpretation, „Die 120 Tage von Sodom“ als Parabel auf den Faschismus und seine unmenschlichen Auswirkungen zu betrachten, greift viel zu kurz. Nicht ohne Grund belässt es Pasolini bei geringen Anspielungen wie dem Ortsschild von Marzobotto, Lärm von Flugzeugen oder deutschen So
ldaten, die zu Beginn den vier Honoratioren dabei helfen, angemessenes „Material“ für deren perfiden Plan zusammen zu treiben. Pasolinis pessimistisches Weltbild, das sich schon in seinem ersten Film „Accatone“ zeigte, hatte inzwischen jeglichen Optimismus, der Teile seiner Filme in den 60er Jahren prägte, verloren. Wie viele Intellektuelle hatte er gehofft, dass die furchtbaren Erfahrungen aus der Zeit von vor 1945 die Menschen zum Umdenken zwingen würde, aber angesichts der immer stärkeren Konsumhaltung der 70er Jahre, hatte er diesen Glauben verloren. So sind „Die 120 Tage von Sodom“ keineswegs ein Rückblick in eine grauenhafte Vergangenheit, sondern ein Abbild von Pasolinis Haltung zur Gegenwart, für das er den bis dahin tiefsten Abgrund im menschlichen Verhalten als Hintergrund nutzt. Auch hier sind wieder die Parallelen zu De Sade’s literarischer Vorlage zu erkennen, der damit seine Wut gegen die damals bestehenden Verhältnisse herausschrie.

So handelt es sich bei den vier Herren, die sich zur eigenen Erbauung eine genau aufgeschlüsselte Gesellschaft aus Helfern, Bewachern und jugendlichen Sklaven zusammen gestellt haben, um einen Richter, einen Bischof und zwei Adlige und damit klassischen Führungsfiguren einer bürgerlichen Gesellschaft. Hinzugefügt werden noch vier reifere Damen, die zur allgemeinen Erbauung erotische Geschichten erzählen oder für die musikalische Begleitung am Klavier sorgen sollen. Ganz offensichtlich war schon von De Sade diese Konstellation als Abbild der gesellschaftlichen Ordnung mit wenigen Mächtigen und vielen Untergebenen, die in unterschiedliche Kategorien eingeteilt sind, gestaltet worden.

So machen die vier Herrschenden nie einen Hehl daraus, dass sie sämtliche andere Personen nur für ihren eigenen Vorteil (in diesem Fall zur Gewinnung sexueller Lust) benutzen. Selbst den älteren Damen, die alles dafür tun, den Herren zu Willen zu sein, wird immer wieder deutlich gemacht, dass auch sie nichts zu sagen haben und sich auch gefallen lassen müssen, keinerlei Attraktivität mehr für deren Vorlieben zu verkörpern (das erinnert ein wenig an alternde Politiker- oder Managergattinnen, die zur Erhaltung ihrer bevorzugten gesellschaftlichen Stellung, ihre mächtigen Männer bei deren Vorlieben unterstützen).
Ähnlich sind die Wachposten (Polizisten) angelegt, die wie alle Anderen zu dieser Konstellation gezwungen wurden ,sich aber dank ihrer Bewaffnung und der damit gehobenen Stellung, sich diesen überlegen fühlen und deshalb die vier Herren tatkräftig unterstützen.

Auf diesem Gesellschaftsbild liegt Pasolinis Hauptaugenmerk, der mit den sadistischen und unmenschlichen Vorgängen drastisch zeigen will, dass dieses System selbst unter solchen Bedingungen störungsfrei funktioniert. Die hier in ihrer mathematischen Anordnung liegende Symmetrie ist ein Synonym für die innergesellschaftlichen Machtstrukturen, die sich regelmäßig selbst regenerieren. So finden die vier Machthaber, die zahlenmäßig deutlich unterlegen sind, immer Unterstützung in irgendeiner Gruppe und Pasolini bringt die perverse Logik dazu noch auf den Punkt, indem er zeigt, wie selbst Todgeweihte noch Andere verraten, nur um sich selbst zu retten. Eine Solidarität innerhalb des Volkes, die Veränderungen herbei führen könnte, existiert nicht. Ein bitterer Gedanke des bekennenden Linken Pier Paolo Pasolini, der sich wie ein roter Faden durch sein Schaffen zieht.

Betrachtet man die Reaktionen auf Pasolinis Film und auch dessen indizierten Status, muss man feststellen, dass seine Intentionen selten verstanden wurden. Zurückzuführen ist das wahrscheinlich auf die hier stark im Vordergrund stehenden explizit dargestellten und beschriebenen Sexual- und Gewaltpraktiken. Pasolinis gestalterische Umsetzung bleibt dabei ganz seiner Linie treu, einer äußerst unprätentiösen, fast spartanischen Darstellung, die jeden Effekt vermeidet und dem Betrachter keinerlei Attraktivität vermittelt. Im Gegenteil entsteht durch die totale Kälte im menschlichen Umgang und die völlige Mitleidslosigkeit, die Pasolini immer wieder der Verzweiflung einiger Opfer gegenüberstellt, eine abschreckende, Ekel erregende Atmosphäre, die der Betrachtung des Films jegliches Vergnügen nimmt.

Die Umsetzung von „Die 120 Tage von Sodom“ erinnert ein wenig an die Quadratur des Kreises. Um seine Intentionen schlüssig - gerade in ihrer pessimistischen Dimension - vermitteln zu können, ist Pasolinis Bezug auf De Sade’s Werk folgerichtig und seine Umsetzung konsequent, doch verlangt seine minimalisierte und bezüglich ihrer Taten auf die Extreme reduzierte Gesellschaftskonstellation, ein sehr hohes Maß an Abstrahierung. Dabei gelingt ihm etwas, dass nur wenigen Filmen vergönnt ist – er hinterlässt einen bleibenden Eindruck und zwingt zu einer Meinung.

"Salò o le 120 giornate di Sodoma" Italien, Frankreich 1975, Regie: Pier Paolo Pasolini, Drehbuch: Pier Paolo Pasolini, Sergio Citti, Darsteller : Paolo Bonacelli, Giorgio Cataldi, Umberto Paolo Quintavalle, Aldo Valletti, Caterina Boratto Laufzeit : 145 Minuten

- weitere im Blog besprochene Filme von Pier Paolo Pasolini :

"Accattone" (1961) 
"Le streghe" (1967)

Mittwoch, 23. September 2009

Estate Violenta (Wilder Sommer) 1959 Valerio Zurlini

Inhalt: Sommer 1943 - während das Kriegsgeschehen immer näher heran rückt, hat sich am Strandleben von Roccione, in der Nähe von Rimini, noch nicht viel verändert. Carlo (Jean-Louis Trintignant), der sich als Student in der Schweiz vor dem Kriegsdienst gedrückt hatte, kehrt nach längerer Zeit wieder nach Hause zurück und wird von seinen - wie immer Party feiernden - Freunden begeistert empfangen. Besonders Rossanna (Jacqueline Sassard), die sich seit ihrer letzten Begegnung sehr verändert hat, hat ein Auge auf ihn geworfen.

Als sich die Clique am nächsten Vormittag am Strand einfindet, fliegt ein deutsches Kampfflugzeug sehr niedrig über den Strand, so dass ein kleines Mädchen in der allgemeinen Verwirrung in Panik gerät. Carlo hilft der Kleinen, die sich an ihn klammert, und lernt deren Mutter Roberta (Eleonora Rossi Drago) kennen, die Witwe eines Kriegshelden...


Sommer 1943 - die Alliierten haben Sizilien besetzt und befinden sich auf dem Weg Richtung Norden. Um weitere Kämpfe zu vermeiden, setzt der "Große Faschistische Rat" Benito Mussolini am 25.Juli 1943 ab, worauf hin dieser verhaftet wird. Statt seiner übernimmt Marschall Pietro Badoglio die Amtsgeschäfte und verhandelt mit den US-Amerikanern über einen Waffenstillstand, der am 08.September 1943 in Kraft tritt. Die Wehrmacht, die als Verbündeter in Italien stationiert war, übernimmt darauf hin auf Befehl Hitlers Norditalien, wo sie gemeinsam mit den Faschisten einen eigenen Staat gründen.

Die Absetzung Mussolinis am 25.Juli ist das Kernstück und der Wendepunkt von "Estate violenta", der richtig übersetzt "Gewalttätiger Sommer" heißt, aber der deutsche Titel "Wilder Sommer" hat auch seine Rechtfertigung, denn so wie Valerio Zurlini seinen Film beginnt, erinnert er zuerst an die typischen Sommervergnügungen junger Erwachsener. Carlo Caremoli (Jean-Louis Trintignant) kommt nach längerer Abwesenheit wieder in seinen Heimatort Roccione, einem Badeort in der Nähe von Rimini, zurück, wo er von seinen alten Freunden freudig begrüßt wird. Nicht nur das Essen und Wein üppig vorhanden sind, auch Rossella (Jacqueline Sassard) ist inzwischen zu einer sehr hübschen jungen Frau herangewachsen und Carlo zudem sehr gewogen. Angesichts dieser Clique, die sich am nächsten Morgen wieder am Sandstrand einfindet, fröhlich Baden geht und Tennis spielt, scheinen Krieg und Tod in weite Ferne gerückt. Gemeinsam mit Suso Cecchi d’Amico, die zuvor schon für Francesco Rosi und Luchino Visconti Drehbücher geschrieben hatte, entwarf Zurlini hier eine private Geschichte, in die nur langsam die Realität eindringt. Es ist nicht nur die Zerstörung einer vermeintlichen Idylle, die sich in „Estate violenta“ ereignet, sondern eine genaue Beschreibung der italienischen Befindlichkeit dieser Zeit, die erst die späteren bürgerkriegsähnlichen Kämpfe ermöglichte, als Soldaten der italienischen Armee und Widerstandskämpfer gegen die Anhänger der Faschisten in Norditalien kämpfen sollten.

Nicht zufällig ist es ein Vorbote des Krieges, der die Begegnung zwischen Carlo und Roberta (Eleonora Rossi Drago) erst ermöglicht, denn deren kleine Tochter ist vom Tiefflug eines deutschen Kampfflugzeugs so verängstigt, dass Carlo ihr zu Hilfe kommt. Da sie ihn nicht mehr loslässt, trägt er sie nach Hause, wo Roberta mit ihrer Mutter (Lilla Brignone) zusammen lebt. Deren kritische Reaktion auf Carlos kurze Anwesenheit, bringt erstmals Struktur in die scheinbar harmonischen Verhältnisse. Carlos Vater ist ein hoher faschistischer Funktionär, der schon 1922 Mussolini unterstützte, weshalb es auch erklärbar wird, warum sich Carlo als Student in der Schweiz vor dem Militärdienst drücken konnte. Auch seine Clique, deren männlichen Mitglieder sich alle dieser unangenehmen Pflicht entziehen konnten, kommt aus dem Umfeld dieser Privilegierten. Im Gegensatz dazu war Robertas Mann als Kapitän im Krieg gefallen, weshalb die Begegnung zwischen der 30jährigen Mutter und Witwe und dem jugendlichen Funktionärssohn von Beginn an einen ambivalenten Charakter erhält.

Dass ihre Beziehung auf Grund des Altersunterschieds nicht gesellschaftlich anerkannt ist, spielt in „Estate violenta“ eine weniger wichtige, mehr an tradierten Verhaltensmustern orientierte Rolle. Viel mehr ist sie als Kulminationspunkt unterschiedlicher Haltungen zu verstehen, die sich in der Liebe zwischen Roberta und Carlo erst zu nivellieren scheinen. Es ist erstaunlich, wie intensiv Zurlini und d’Amico diese Liebesbeziehung entwickeln, ohne dabei die Gegensätzlichkeit der Liebenden zu leugnen und letztlich das darin verankerte Scheitern. Dabei nehmen die beiden Protagonisten unterschiedliche Funktionen ein - Eleonora Rossi Drago wurde mehrfach ausgezeichnet für ihre Rolle als „ältere“ Frau, die ihre Gefühle jenseits von Konventionen und der eigenen Ängste zulässt, aber Trintignants Spiel ist aus heutiger Sicht erstaunlicher.

Zwar charmant, gebildet und höflich in seinen Umgangsformen, verfügt er noch über wenig Reife. Auch als Mussolini gestürzt wird, die Faschisten vertrieben und seinem Vater die Villa weggenommen wird, reflektiert er seine Situation noch nicht. Fast verspielt wirkt er, wenn er den Schlüssel für eine angemietete Hütte in der Hand hält, wo er die Nacht mit Roberta verbringen will, obwohl die Front immer näher rückt. Während Roberta in ihrem Umgang ehrlich bleibt und auch vor Konfrontationen mit ihrer Familie nicht zurückschreckt, wird Carlo zunehmend demontiert. In ihm verdeutlicht sich ein schwacher Charakter, der weder die Rolle seines Vaters kritisch zu betrachten in der Lage ist, noch sein eigenes Handeln reflektieren, geschweige ändern kann. Trintignant gelingt in seiner Darstellung das Kunststück, die äußerliche Ernsthaftigkeit, die ihn zu Beginn von den gleichaltrigen Müßiggängern zu unterscheiden scheint, in Unsicherheit zu verwandeln. Tatsächlich unterscheidet er sich nicht von den Anderen, die in ihrer unreflektierten Anpassung an den Faschismus sogar konsequenter sind.

Angesichts der Zerstörungen im letzten Teil des Films verblassen sämtliche idyllische Bilder vom Strandleben und fröhlichen jungen Leuten. Zurlini und D’Amico deuten nur an, was Italien in den nächsten zwei Jahren erwarten wird, aber trotz dieser schrecklichen Ereignisse, liegt die eigentliche Tragik dieser Szene in der Trennung der Liebenden. Der Film verwendet scheinbar die üblichen Muster, in dem die Umstände dafür herhalten müssen, dass zwei Menschen nicht zusammen sein können. Doch letztlich ist es nur Carlos Haltung, die die Beziehung zerstört. Sein Wunsch, sie möge zu ihrer Tochter zurückkehren, soll vor allem ihn schützen, denn im Gegensatz zu ihr, ist er nicht bereit sein Leben zu riskieren und mit den Konventionen zu brechen, mit denen er in den letzten 20 Jahren aufgewachsen war. Das Scheitern dieser Liebesbeziehung wird so zum Synonym für die Trennung einer Bevölkerung und der unnötigen Verlängerung eines Krieges – nicht gesellschaftskritisch zugespitzt und ohne offensive politische Anklage, aber in seiner Konzentration auf die kleinste Einheit privater Empfindungen nachvollziehbar und beeindruckend. 

"Estate violenta" Italien / Frankreich 1959, Regie: Valerio Zurlini, Drehbuch: Valerio Zurlini, Suso Cecchi d'Amico , Darsteller : Eleonora Rossi Drago, Jean-Louis Trintignant, Jacqueline Sassard, Lilla Brignone, Frederica Ranchi, Enrico Maria Salerno Laufzeit : 100 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Valerio Zurlini: 

"Le soldatesse" (1965)
 

Freitag, 18. September 2009

A ciascuno il suo (Zwei Särge auf Bestellung) 1967 Elio Petri

Inhalt: Wieder hat der Apotheker des kleinen sizilianischen Ortes, Arturo Manno (Luigi Pistilli), eine anonyme Morddrohung erhalten, was Niemanden seiner Freunde ernsthaft wundert, denn der verheiratete Manno hat viele Affären mit anderen Frauen, darunter auch einer Minderjährigen. Richtig ernst nimmt die Drohungen allerdings auch keiner, bis er und sein Freund Dr. Antonio Roscio (Franco Tranchina) bei der Jagd am frühen Morgen ermordet werden.

Sofort fällt der Verdacht auf den Vater und die Brüder der Minderjährigen, aber Professore Paolo Laurana (Gian Maria Volontè), ein Freund der Toten, fallen sofort Unstimmigkeiten auf, da die Buchstabenschnitzel aus einer christlichen Zeitung stammen und die Verdächtigen Analphabeten sind. Ohne irgendwelche Zusammenhänge zu er
ahnen oder über Unterstützung in der Bevölkerung zu verfügen, macht er sich auf die Suche nach den wahren Mördern...


Aus heutiger Sicht ist es schwer zu beurteilen, warum "A ciascuno il suo" (Jedem das Seine), der in Cannes für sein Drehbuch eine Palme erhielt, von Beginn an ein Image verpasst wurde, dass zu falschen Erwartungshaltungen führen musste. Schon der Original -Trailer betonte die wenigen Actionelemente und vermittelte mit zackiger 60er-Jahre-Grafik den Eindruck einer blutrünstigen Auseinandersetzung. Der deutsche Titel "Zwei Särge auf Bestellung" suhlt sich dazu noch im Giallo-Sumpf, während der englische Titel "We still kill the old way" wenigstens nicht völlig frei erfunden ist, sondern einen Originalsatz fast korrekt zitiert, der allerdings für die Handlung nebensächlich ist.

"Er ist wahrscheinlich impotent"

Diese Bemerkung eines Polizisten, der bei der Beerdigung von Arturo Manno (Luigi Pistilli) und Dr. Antonio Roscio (Franco Tranchina) durch ein Fernglas die Trauernden observiert, gilt Prof. Paolo Laurana (Gian
Maria Volontè), einem Freund der beiden Ermordeten, und ist deutlich aussagekräftiger hinsichtlich der Intention des Films. Laurana stammt wie fast alle Anwesenden aus dem kleinen sizilianischen Dorf "La Marca" und arbeitet als Dozent in Palermo, weshalb er nur in den Sommermonaten hier verweilt. Der Intellektuelle, der inzwischen wieder aus der kommunistischen Partei ausgetreten ist, wohnt bei seiner Mutter und hat keine Beziehungen zu Frauen. Das er Teil des Freundeskreises war, dem neben den Ermordeten auch der Anwalt Rossello (Gabriele Ferzetti) angehörte, ist nur durch seine Herkunft begründet.

Petri verdeutlicht dessen Rolle als Außenseiter, in dem er den Film in drei Teile gliedert - die Vorgeschichte bis zum Tod der beiden Männer, den fast die gesamte Laufzeit einnehmenden Hauptteil, der ausschließlich aus der subjektiven Sicht Lauranas geschildert wird, und einen kurzen Nachspann. Eine Verzahnung zwischen Lauranas Erfahrungen und den tatsächlichen Hintergründen findet nicht statt. Letztlich bleibt Laurana nur ein Element, dass für die wesentlichen Entscheidungen der Strippenzieher keine Rolle spielt.

Im Mittelpunkt der Vorgeschichte steht der Apotheker Manno, dessen promiskuitives Verhalten im ganzen Ort bekannt war, weshalb sich Niemand wunderte, dass er anonyme Morddrohungen erhielt. Laurana taucht nur kurz während dieser Sequenz auf,
ohne weiteren Einfluss auf die Ereignisse zu nehmen. Es ist auch schwer vorstellbar, dass er mit den zwei Männern zur Jagd am frühen Morgen hinausgefahren wäre, bei der Beide kaltblütig erschossen wurden. Da Manno mit einer Minderjährigen aus einem heruntergekommenen Ortsteil geschlafen hatte, landen ihr Vater und ihre zwei Brüder als Verdächtige im Gefängnis. Laurana, der bei der Begutachtung des anonymen Briefes festgestellt hatte, dass die Buchstaben aus dem "Osservatore Romana", einer christlichen Zeitung, ausgeschnitten wurden, zweifelt deren Schuld sofort an, auch weil es sich bei den drei Männern um Analphabeten handelt, und bittet Anwalt Rossello um ihre Verteidigung.

Der Film lässt von Beginn an keinen Zweifel daran, dass die tatsächlichen Mörder aus ande
ren Kreisen kommen und aus anderen Beweggründen gehandelt haben. Als Laurana - von seiner detektivischen Erkenntnis noch ganz begeistert - nachspüren will, wer überhaupt den "Osservatore Romana" abonniert hat, wird er von dem Geistlichen mit den Worten begrüsst, dass er den Mord nicht begangen hätte. Da Petri ab dieser Phase immer nur bei Laurana bleibt, erfährt auch der Betrachter nichts von den tatsächlichen Hintergründen. Anders als in Kriminalfilmen, in denen so die Spannung aufrecht erhalten werden soll, wird in "A ciascuna il suo" damit der Eindruck forciert, dass Laurana weder Einfluss noch Beziehungen hat.

Leider wird Volontès Leistung in diesem Film auf Grund der falschen Erwartungshaltun
g zu wenig geschätzt. Großartig bleibt er seinem verhuschten, wenig am virilen Bild eines ermittelnden Einzelgängers orientierten Images, treu. Eher zufällig beginnt er nachzuforschen, ohne sich der Folgen bewusst zu sein. Dass er sich, trotz diverser Warnungen, weiter hinter den "Fall" klemmt, liegt einzig an seinem verkorksten Verhältnis zu Frauen. Luisa Roscio (Irene Papas), die Witwe des ermordeten Arztes, ist der Grund für seine Bemühungen, denn es kristallisiert sich immer mehr heraus, dass er schon lange in diese schöne Frau verliebt ist.

Das Volontè in dieser Rolle überhaupt als Identifikationsfigur funktioniert, liegt einzig an seinem intensiven, nachvollziehbaren Spiel. Ohne viele Worte zu machen, entwirft der Film das komplexe Bild eines unfreiwilligen Außenseiters, der lieber dazu gehören möchte. Laurana ist kein Held, der eine kritische Haltung gegenüber den mafiösen Strukturen seiner Heimat einnimmt und bewusst auf Konfrontation geht, sondern Jemand, der sich in diesen Fall hineinsteigert, nur um die Frau zu gewinnen, die er schon lange begehrt. Sein Mut entspringt einzig dem Unwissen darüber, mit wem er sich anlegt und der fehlenden Einsicht, dass er keine Chance bei dieser Frau hat. Im gesamten Film gibt es keine politischen Parolen, keine moralischen Anklagen, nicht einmal die zu unrecht Verdächtigen kommen zu Wort. Wenn Laurana überhaupt einmal die Stimme erhebt, dann nur, um persönliche Enttäuschung auszudrücken. Der Film vermeidet bewusst jede emotionale und ideologische Zuspitzung. Auch die Morde erhalten den Charakter von Selbstverständlichkeit.

Trotzdem ist Elio Petris Film ei
ne Anklage gegen diese Verhältnisse, aber er verzichtete auf die üblichen Argumente gegen die Mafia, die hier ebenso wenig konkret vorkommt, wie die gewohnten politischen Ränkespiele im Hintergrund. Das bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt, sondern das sie längst immanenter Teit einer Sozialisation sind, in der Jeder zum Opfer werden kann, wenn er nicht die ihm zugewiesene Rolle einnimmt. Und sei es die Position des Außenseiters, in der Laurana lange geduldet wurde. Die Perfidität in Petris Story verbirgt sich darin, dass der Protagonist nicht einmal einer großen Verschwörung auf der Spur war. Er wurde nicht beseitigt, um die Aufdeckung einer Straftat zu verhindern - es nahm ihn sowieso Niemand ernst - sondern weil er nicht mehr in der Lage war, sich anzupassen. Sein Aktionismus entsprang einzig allein seinen eigenen Motiven oder wie einer der Männer abschließend ausdrückte: "Laurana war ein Idiot". Das reichte schon für seinen Tod.

"A ciascuno il suo" Italien 1967, Regie: Elio Petri, Drehbuch: Elio Petri, Leonardo Sciascia (Roman), Darsteller : Gian Maria Volonté, Irene Papas, Gabriele Ferzetti, Salvo Randone, Luigi Pistilli, Laufzeit : 89 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Elio Petri:

Dienstag, 15. September 2009

Amore e rabbia (Liebe und Zorn) 1969 Carlo Lizzani, Bernardo Bertolucci, Pier Paolo Pasolini, Jean-Luc Godard, Marco Bellocchio

Inhalt: Episodenfilm bestehend aus fünf Kurzfilmen :

"L'indifferenza" (Carlo Lizzani):

New York - verschiedene Vorkommnisse verdeutlichen die Gleichgültigkeit der Menschen. Eine Frau wird inmitten einer Wohnsiedlung von zwei Männern angegriffen, ohne das ihr Jemand hilft, Obdachlose liegen auf den Bürgersteigen und ein Mann versucht vergeblich ein Fahrzeug zu stoppen, dass ihm hilft, seine schwer verletzte Frau in ein Krankenhaus zu bringen...



"Agonia" (Bernardo Bertolucci):

Ein Geistlicher (Julian Beck) liegt im Todeskampf und erlebt noch einmal den Aufstand der Seelen, die ihn im Leben um Hilfe baten...



"La sequenza del fiore di carta" (Pier Paolo Pasolini):

Riccetto (Ninetto Davol
i), ein junger Mann, läuft fröhlich zwischen den Menschen und Autos herum, trägt eine große Papierblume und wechselt mit Vielen ein paar freundliche Worte. Auch mit Gott hält er Zwiesprache über die Unschuldigen, die nichts für die schrecklichen Ereignisse können, die wie Schatten über dem Geschehen liegen...


"L'amore" (Jean-Luc Godard):

Ein italienischer Mann und eine französische Frau beobachten ein Liebespaar - ebenfalls ein italienischer Mann und eine französische Frau - lauschen deren Gesprächen und unterhalten sich über deren Beziehungschancen...



"Discutiamo discutiamo" (Marco Bellocchio)

Während einer Vorlesung stürmen linke Studenten die Veranstaltung und konfrontieren die konservativen Kommilitonen mit ihrer Meinung. Es kommt zu einer intensiven Diskussion...



Äußerlich wirken die fünf Kurzfilme geradezu prädestiniert für einen Episodenfilm, da sie sich jeweils stark abstrahierend einem Thema widmen. Doch die unter dem Titel "Amore e rabbia" vollzogene Einheit, entsprang nicht der ursprünglichen Idee, sondern wurde erst im Nachhinein konstruiert.

Die katholischen Journalisten Pucio Pucci und Piero Badalassi hatten den Regisseuren Carlo Lizzani, Bernardo Bertolucci und Pier Paolo Pasolini, die für ihre kritische Haltung gegenüber der Kirche bekannt waren, den Vorschlag eines Episodenfilms unter dem Titel "Vengelo'70" (Evangelium '70) unterbreitet, zu dem sie die Szenarien für die Episoden "L'indifferenza" (Gleichgültigkeit), "Agonie" (Todeskampf) und "La sequenza del fiore di carta" (Die Geschichte einer Papierblume) entwarfen. Gemeinsam mit "Seduto alla sua destra" von Valerio Zurlini sollten diese drei Kurzfilme herauskommen, aber dann wurde der Langfilm durch die Kurzfilme "L'amore" von Jean-Luc Godard und "Discutiamo, discutiamo" von Marco Bellocchio ersetzt und der Episodenfilm erschien bei der Berlinale 1969 unter dem Titel "Amore e rabbia".

Betrachtet man die Filme einzeln in ihrer künstlerischen Eigenständigkeit, wirken der Titel und die äußere Homogenität künstlich. Das Thema "Liebe und Zorn" passt theoretisch zu vielen Filmen und der christliche Ansatz, der den drei ersten Teilen noch einen Zusammenhang gibt, geht mit der vierten Episode verloren. Eine thematische Linie findet sich ausschließlich im Entstehungszeitraum der fünf Teile, denn die politische Diskussion der späten 60er Jahre und die daraus resultierende Haltung der fünf Regisseure, wird hier nachvollzie
hbar repräsentiert. So hat der äußere Rahmen eine
s Episodenfilms bei „Amore e rabbia“ eher die Funktion eines Daches, unter dem sich fünf eigenständige Werke vereinen.

 

„L’indifferenza“ (Carlo Lizzani)

Im Vergleich zur Entstehungszeit des Films hat sich die mediale Verbreitung von Gewalttaten deutlich verstärkt, weshalb Lizzanis Plakativität inzwischen übertrieben und künstlich wirkt. Um die mangel
nde Nächstenliebe und die daraus resultierende Gleichgültigkeit der Menschen anzuprangern, lässt er eine junge Frau von zwei Männern am helllichten Tag in einem New Yorker Wohnviertel verfolgen. Während die Bewohner teilnahmslos aus den Fenstern sehen oder ganz wegsehen, können sich die zwei Männer unten viel Zeit lassen, die ihnen mehrfach entwischende Frau wieder einzufangen.

Lizzani verzahnt dieses Ereignis mit einem dokumentarischen Blick auf die vielen Obdachlosen, die auf den Bürgersteigen liegen, und den Folgen eines Autounfalls. Ein Mann versucht, während er seine schwer verletzte Frau auf den Armen trägt, ein Auto anzuhalten, aber Niemand hilft ihm, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Erst als die Polizei eintrifft, können sie einen widerwilligen Fahrer dazu bringen, die Beiden mitzunehm
en. Doch anstatt der Motorradstreife hinterher zu fahren, biegt der Mann plötzlich ab. 

So unecht wie das Blut auf dem Gesicht der verunglückten Frau, wirken die Konflikte, die Lizzani hier beschwört. Die Intention wird deutlich und vielleicht konnte man Ende der 60er Jahre damit noch einen Schock auslösen, aber aus heutiger Sicht wirken diese Ereignisse, die längst von der Realität überholt wurden (auch das die Obdachlosen inzwischen aus dem New Yorker Straßenbild verschwunden sind, ist kein Zeichen gewachsener Nächstenliebe), unfreiwillig komisch. Insgesamt der schwächste Beitrag des Episodenfilms, auch wenn seine Aussage nach wie vor aktuell ist.


„Agonie“ (Bernardo Bertolucci)

Bertoluccis Film ist nur schwer nach üblichen Filmkriterien zu beurteilen, weil er hier eng mit der avantgardistischen Dance - Group „Living Theatre“ zusammen arbeitete, deren Interpretation er in 10 Tagen filmte. Julian Beck, der Leiter der Gruppe, spielt einen tot Geweihten, dem eine Vielzahl von Menschen, denen er in seinem Leben begegnet war, nochmals erscheinen. Er hatte nie etwas Böses getan, aber seine Tatenlosigkeit konnte auch Niemandem helfen, so dass sein ganzes Leben wie ein Todeskampf wirkt, weil er schon lange vor seinem Tod gestorben war.

Das „Agonie“ kein re
ines Tanztheater ist, liegt an Bertoluccis Kameraführung. Er bleibt nicht in der Totalen, sondern geht mit der Kamera in das menschliche Knäuel hinein, das sich zeitweise bildet, fängt Details ein und sieht genau in die Gesichter der Beteiligten. Trotzdem ist „Agonie“ kein Film im eigentlichen Sinne, sondern ein moderner Tanz, frei in seiner Gestaltungsform, bei dem die Kamera Teil der Choreographie wird.


„La sequenza del fiore di carta" (Pier Paolo Pasolini)

Obwohl Pasolinis Film vergleichsweise kurz ist, bildet er doch das Zentrum des Gesamtfilms in seiner Kombination aus der Auseinandersetzung mit Gott und einem klaren politischen Statement. Riccetto (Ninetto Davoli) tanzt durch die Großstadt, schwingt um Laternenmasten, spricht freundlich Menschen an, steigt in Autos und fährt ein Stück mit. Dabei hält er, wenn er beschwingt über Straßen und Wege flaniert, eine große Papierblume in seinen Händen.

Diese fröhlichen Bilder überblendet Pasolini mit dokumentarischen Aufnahmen der Gräuel des 20.Jahrhunderts – Krieg, Aufmärsche, KZ und Leichenberge. Dabei versucht Gott Riccetto anzusprechen, um ihn zu informieren. Doch dieser verweist auf seine Unschuld, weil er nichts davon wusste, aber Gott nimmt ihm diese Illusion. Schon durch den Glauben, keine Schuld durch Nichtwissen zu haben, nimmt man Schuld auf sich – am Ende stirbt Riccetto, wie schon viele vermeintlich Unschuldige vor ihm.


In Pasolinis Film ist seine tief greifende Auseinandersetzung mit den politischen Ereignissen der späten 60er Jahre zu erkennen. Lange vor dieser weltweiten Protestbewegung hatte er den Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse eingefordert, aber er spürte auch die Ambivalenz hinter dem Aufbegehren der jungen Generation. Die große Papierblume ist ein Symbol für die Bewegung der Blumenkinder, die mit „Make love, not war“ gegen den Vietnamkrieg kämpften, aber trotz aller Sympathie hielt er diesen Weg nicht für aussichtsreich. In wenigen Minuten bringt Pasolini in einer überzeugenden Bildsprache seinen zunehmenden Fatalismus auf den Punkt, der seine veränderte Einstellung zwischen „Accattone“ 1961 und „Salò“ 1976 kennzeichnen sollte. An einen Kampf, der noch zu gewinnen ist, glaubte er schon Ende der 60er Jahre nicht mehr, weshalb sich einzig in seinem Film die Begriffe „Liebe“ und „Zorn“ zumindest unterschwellig vereinen.

Auch wenn die Regisseure Lizzani, Bertolucci und Pasolini ihre Thematik unterschiedlich interpretierten, so fallen doch Gemeinsamkeiten zwischen den drei Episoden auf, welche nicht zuletzt auf den Entwurf der beiden Journalisten Pucci und Badalassi zurückgehen. Tatenlosigkeit, egal ob aus Gleichgültigkeit, dem Wunsch, nichts Falsches zu tun, oder aus dem Gefühl der eigenen Unschuld, kann nicht zu Veränderungen führen – weder im christlichen noch gesellschaftspolitischen Sinne. Auch Emotionalität und Ernsthaftigkeit sind weitere verbindende Komponenten, die in deutlichem Gegensatz zum Charakter der weiteren Episoden stehen, die ihrerseits über eine sezierende Kühle und ironische Distanz verfügen.



„Amore“ (Jean-Luc Godard)

Zuerst wirft die Kamera ihren Blick auf menschliche Details – die Hände, der Nacken oder ein Teil des Beins. Dann kommen ein Mann und eine Frau ins Bild, die sich über ein anderes Paar analytisch unterhalten. Die Rollen sind dabei klar verteilt – er ist der Intellektuelle, sie zwar gebildet, aber noch mit wenig Erfahrung. Er spricht italienisch, sie französisch, aber sie p
flegen einen Dialog, als ob sie dieselbe Sprache sprechen.

Auch das Paar, das sie beobachten, spricht in zwei Sprachen, allerdings wiederholt sie exakt das in Französisch, was er zuvor in Italienisch sagte. Ein Dialog findet nicht statt, aber sie gerieren sich als Liebespaar. Erst langsam kristallisieren sich ihre Rollen heraus – sie ist eine Bürgerliche, er ein Revolutionär – und
als sie zunehmend einen Dialog beginnen, bedeutet das ihre Trennung. 

Interessant an Godards Film ist nicht die Verklausulierung der Unvereinbarkeit von bürgerlichem und revolutionärem Denken, sondern der ironische Blick darauf, der durch das Einblenden einer „Made in Cuba“ - Tafel noch forciert wird. Demaskierend ist der Dialog des voyeuristischen Paares, dessen Gespräch auch in Diskussionen über Kinofilme abdriftet. Wirklich interessiert wirken sie trotz ihrer Beurteilungen nicht am Liebeszustand des Paares, sondern mehr intellektuell angeregt, ihre eigenen selbstverliebten Analysen vortragen zu können.

Auch die bürgerlich-revolutionäre Verbindung, die eine kurze gemeinsame Liebe erfährt, macht keinen überzeugenden Eindruck. Erst nachplappernd und dann hilflos wirken ihre in verschiedenen Sprachen geführten Gespräche und die Trennung erfolgt dann nicht aus mangelnder gegenseitiger Anziehungskraft (Godard betont in seinen Bildern die körperliche Nähe), sondern durch die Selbsterkenntnis des Revolutionärs, dass sie nicht zusammen passen.



„Discutiamo, discutiamo“ (Marco Bellocchio)

Der Titel ist hier Programm, denn während der 20minütigen Laufzeit wird ausschließlich diskutiert. Regisseur Bellocchio versammelte eine Studentengruppe um sich, die in verteilten Rollen die Auseinandersetzung zwischen konservativen und linken Studenten sowie dem Lehr- und Führungspersonal nachspielt. Er selbst gibt einen Lektor, während sich manche Studenten Bärte umbinden, um damit Professoren oder den Dekan zu imitieren.

Das Ganze wird mit Verve und ohne allzu großen Ernst inszeniert – man sieht immer mal wieder in die lachenden Gesichter der Studenten – i
st aber sehr genau in der sprachlichen Auseinandersetzung beobachtet. Die unterschiedlichsten Phasen werden bei der Diskussion durchlaufen vom provokanten Beginn, über eine Phase des gegenseitigen Verständnisses bis zur Unvereinbarkeit der Haltungen, die dann von als Polizisten verkleideten Studenten mit Luftballons niedergeknüppelt wird.

Ähnlich wie in Godards „Amore“ überrascht aus heutiger Sicht der ironisch-sarkastische Blick auf die damals aktuellen Auseinandersetzungen. Bellocchio arbeitete genau den Zwiespalt heraus, wenn eine privilegierte Gruppe, wie es die Studenten damals noch eindeutig waren, sich für die Besserstellung von - aus ihrer Sicht - unterprivilegierten Gruppen einsetzte, und dabei eine agitatorische Sprache und Argumentation benutzte, die in ihrem Terminus kaum abgehobener hätte sein können. Schon geringste sprachliche Abweichungen von der jeweiligen ideologischen Haltung, bewirkten sowohl bei Gegnern wie Sympathisanten sofortigen Widerspruch. Das Spielerische des Films verdeutlicht auch Bellocchios Intention, der an eine wirkliche Veränderung auf Basis dieser Diskussion, nicht ernsthaft glaubt.


„Amore e rabbia“ ist mit Sicherheit ein Kind seiner Zeit, aber überraschend ist doch die Zeitlosigkeit, mit der die Regisseure diese Phase Ende der 60er Jahre beurteilten. Obwohl ihr linke politische Geisteshaltung nicht in Frage zu stellen ist, ist der Episodenfilm alles andere als ein Werk von kritiklosen Unterstützern. Ihre Sympathien sind zwar eindeutig, weshalb konservativ denkende Betrachter diesem Film damals wenig positiv gegenüber gestanden haben und ihn heute eher als verblasstes Relikt seiner Zeit betrachten werden, aber damit verkennen sie die Komplexität, mit der sich die fünf Regisseure mit den damaligen Ereignissen auseinandersetzten. Bis auf Lizzanis erste Episode bleiben vier Kurzfilme in Erinnerung, die auf künstlerische, bewusst abgehobene Weise, ihre ganz eigene Diskussion führen, deren Inhalt bis heute Gültigkeit bewahrt hat.
 
"Amore e rabbia" Italien, Frankreich 1969, Regie: Carlo Lizzani, Bernardo Bertolucci, Pier Paolo Pasolini, Jean-Luc Godard, Marco Bellocchio, Drehbuch: Puccio Pucci, Piero Badalassi, Carlo Lizzani, Bernardo Bertolucci, Pier Paolo Pasolini, Jean-Luc Godard, Marco BellocchioDarsteller : Tom Baker, Julian Beck, Ninetto Davoli, Nino Castelnuovo, Marco Bellocchio, Laufzeit : 102 Minuten 

weitere im Blog besprochene Filme von Marco Bellocchio:

"I pugni in tasca" (1965) 
"La Cina è vicina" (1967) 
"Marcia trionfale" (1976) 

weitere im Blog besprochene Filme von Bernardo Bertolucci: 

"La commare secca" (1962)

weitere im Blog besprochene Filme von Pier Paolo Pasolini: 

"Accattone" (1961) 
"Le streghe" (1967)
"Salò o le 120 giornate di Sodoma" (1975)

weitere im Blog besprochene Filme von Carlo Lizzani: 

"L'amore in città" (1953)

Samstag, 12. September 2009

Il prefetto di ferro (Die Rache bin ich) 1977 Pasquale Squitieri

Inhalt : Obwohl er vor der Machtergreifung der Faschisten noch gegen diese gekämpft hatte, wird Cesare Mori (Giuliano Gemma) ausgerechnet von Mussolini als neuer Präfekt nach Sizilien geschickt, um dort gegenüber der Mafia die Machtbefugnisse des Staates durchzusetzen. Mori hatte sich Jahre zuvor schon als konsequenter Vertreter des Gesetzes erwiesen, der mit eisernem Besen aufzuräumen pflegte.

Dieser Ruf eilt ihm voraus, weshalb er schon auf der Zugfahrt nach Palermo zwischen zwei Haltepunkten den Zug verlässt, um eine
n Informanten zu treffen, der den Mut hat gegen die Mafia auszusagen. Doch er muss feststellen, dass seine Vorgehensweise keineswegs verborgen blieb, und man versucht, ihn mit brutalsten Mitteln zu diskreditieren, um gar nicht erst das Vertrauen der Bevölkerung in seine Stärke entstehen zu lassen. Am nächsten Morgen wird er in das Haus seines Informanten gerufen, dass von Leichen übersät ist, doch der eigentliche Kampf beginnt erst jetzt...

Man sollte über die deutsche Gewohnheit, einem Film einen reißerischen Titel zu verpassen, der nichts mit dem Original zu tun hat, kein Wort verlieren, aber im Fall von "Il prefetto di ferro" ist diese Vorgehensweise deshalb erwähnenswert, weil sie genau das Gegenteil von dem vermittelt, was Regisseur Pasquale Squitieri mit seinem Film bezweckt hatte. Während "Die Rache bin ich" auf eine emotional bestimmte Handlungsweise schließen lässt, bemüht sich der Film im Gegenteil um Zurückhaltung und stellt einen Protagonisten in den Mittelpunkt, der in seiner rationalen Arbeitsweise jede persönliche Intention von sich weist.

"Der Präfekt aus Eisen" wurde Cesare Mori (Giuliano Gemma) von der sizilianischen Bevölkerung genannt, weil seine Methoden, die mafiösen
Strukturen zu bekämpfen, als unbarmherzig und rücksichtslos galten. Schon an dieser Haltung ist Squitieris Zwiespalt festzumachen, denn der überzeugte Kommunist, der sein Filmhandwerk unter anderem bei Francesco Rosi gelernt hatte, stellte eine historische Person in den Mittelpunkt, deren Leistung bis heute zu sehr unterschiedlichen Interpretationen Anlass gibt. Fest steht allein, dass es ihm gelang, den Einfluss der Mafia auf Sizilien zurückzudrängen und deren Macht für einen Moment zu brechen, aber die Methoden, die er dafür anwenden konnte, basierten auf einer von Mussolini erteilten uneingeschränkten Machtbefugnis.



Cesare Mori selbst war kein Faschist, weshalb er unmittelbar nach Mussolinis Machtergreifung 1922 aus dem Dienst entlassen wurde, da er die von den Faschisten aufgebaute und aus seiner Sicht ungesetzliche Volksfront bis dahin vehement bekämpft hatte. Doch angesichts der unlösbaren Probleme auf Sizilien, erinnerte sich Mussolini wieder an Mori und setzte ihn dort als Präfekten ein. Mori verstand sich als Staatsdiener, der dessen Gesetzen Geltung verschaffen wollte, und da inzwischen die faschistische Partei die Regierung Italiens bildete, galten deren Regeln auch für ihn. Eine zu große Nähe zu den Faschisten konnte nicht im Sinne Squitieris sein, weshalb dem Film jederzeit das Bemühen anzumerken ist, das Trennende zwischen den korrupten, etwas einfach gestrickten und nur auf Außenwirkung bedachten Vertretern der faschistischen Partei und dem kultivierten, immer beherrschten und nie an den eigenen Vorteil denkenden Mori herauszuarbeiten. Doch die daraus entstehende Frage, warum Mori niemals eine echte Antihaltung gegenüber den Faschisten zeigte ( im Film spielt er immer geschickt mit deren eigenen Vorstellungen, um zu starke Verbrüderungen zu vermeiden), stellt sich Squitieri nicht.


In "Il Prefetto di ferro" wird weiteres ambivalentes Potential sichtbar. Auch die Rolle der Mafia ist nicht eindeutig, da sie einerseits die Bewohner der Insel unterdrückte und ohne Rücksicht mordete, andererseits tief in ihr verwurzelt war, von deren Armut profitierte und dem daraus resultierenden Hass auf die Herrschenden. Wie wichtig Squitieri die Rolle der Bevölkerung war, ist an der erfundenen Figur Anna Torrisi, gespielt von seiner langjährigen Lebensgefährtin Claudia Cardinale, zu erkennen. Die Wandlung der einfachen Frau aus dem Volke von totaler Ablehnung gegenüber dem neuen Präfekten bis zu einer vertrauensvollen Haltung, soll Moris tatsächliche Intention - die Bevölkerung Siziliens vom Joch der Unterdrückung zu befreien - unterstreichen.
Die kühle Präzision, mit der Mori dabei vorgeht, wird durch eine fast statische Inszenierung, die nur selten emotionale Momente zeigt, unterstütz
t. Tatsächlich wirkt der ihm verliehene Titel als "Mann aus Eisen", angesichts seines fairen Umgangs auch mit offensichtlichen Verbrechern, ungerecht und in einem Moment beklagt Mori auch diesen Umstand. Körperliche Züchtigungen und unmenschliche Haftbedingungen kommen genauso wenig vor wie die zahlreichen Attentate, die in dieser Zeit auf Mori verübt wurden, als wollte der Regisseur damit eine emotionale Zuspitzung in der Auseinandersetzung vermeiden. Nur kurz vor dem Ende des Films wird ein solcher Versuch geschildert, aber dieser verweist schon auf Verschwörungen innerhalb höchster Kreise. Tatsächlich beliess es auch die historische Figur nicht bei der Verfolgung der Mitläufer, sondern suchte nach deren Hintermännern, was ihn direkt in die Führungsspitze der faschistischen Partei führte und damit zu seiner Abberufung durch Mussolini. 

"Die Mafia ist eine Hure, die sich den Herrschenden andient" - letztlich kann Mori nur die äußeren Symptome bekämpfen, aber nicht die Ursachen, weil die jeweiligen Machthaber selbst von den mafiösen Strukturen profitieren. Während die faschistische Partei großkotzig von der Vernichtung der Mafia spricht, ergeht sich Mori in fatalistischen Gedanken, was ihn aber nicht davon abhält, den Senatorenposten in Rom anzunehmen. Es gab eine Vielzahl von unangenehmeren Strafen, die unbequem gewordenen Zeitgenossen in dieser Phase zuteil wurden.
"Il prefetto di ferro" verfügt über eindrucksvolle Momente sezierender Klarheit, aber der fehlende Mut, die Ambivalenz hinter dem Geschehen zuzulassen, nimmt dem Film viel von seiner möglichen Wirkung. Das "Il prefetto di ferro" 1977 gedreht wurde, kann kein Zufall sein, denn zu dieser Zeit wurden die Verstrickungen der Mafia mit der damaligen konservativen Regierung zunehmend deutlich, aber anders als der von Damiani parallel gedrehte "Io ho paura" (Ich habe Angst), stellt der Film keine Verbindung zur Gegenwart her, sondern wirkt nur wie ein gelungener Historienfilm.

"Il prefetto di ferro" Italien 1977, Regie: Pasquale Squitieri, Drehbuch: Pasquale Squitieri, Arrigo Petacco, Darsteller : Giuliano Gemma, Claudia Cardinale, Stefano Satta Flores, Rossella Rusconi, Salvatore Billa, Laufzeit : 113 Minuten


weitere im Blog besprochene Filme von Pasquale Squitieri:

Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.